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Der Weihnachtsmann wäscht die Toten

Lina Atfah
Übersetzung: Osman Yousufi
Foto: Privat

„Wie können wir die Menschen aus Salamiyah bloß überzeugen, dass der Weihnachtsmann nicht an Silvester kommt?”, las ich auf Facebook, als ich schon in Deutschland und längst nicht mehr in Salamiyah lebte. Dort kam der Weihnachtsmann immer am 31. Dezember – was sollte die Frage also?

Als mein Mann mir erklärte, dass der Weihnachtsmann auf der ganzen Welt an Weihnachten komme und sein Besuch nur in Salamiyah auf Silvester verschoben werde, lachte ich laut auf und konnte nicht fassen, dass ich achtundzwanzig Jahre alt werden musste, um das zu erfahren. Ich rief mir alle Silvester meines Lebens ins Gedächtnis und erinnerte mich an meine erste Begegnung mit dem Weihnachtsmann: Ich war damals fünf Jahre alt.

Ein Mann mit weißem Bart und rotem Anzug kam auf mich zu und schenkte mir so eine tolle Puppe, dass mein Herz einen Sprung machte und ich spontan ein Gedicht für ihn aufsagte. Der Weihnachtsmann freute sich so sehr über die erste Dichtung meines Lebens, dass er die Maske abzog und mich küsste. Doch für mich brach eine Welt zusammen: Der Weihnachtsmann war gar nicht echt, er trug eine Maske! Es dauerte lange, bis meine Eltern mich überzeugen konnten, dass nur dieser eine Weihnachtsmann gefälscht war, keineswegs alle.

Ab dann spielte mein Onkel Thaer für uns den Weihnachtsmann. Thaer war zwar ein erwachsener Mann, aber auf dem geistigen Entwicklungsstand eines Zwölfjährigen. An Silvester legte er einen der traditionellen schwarzen arabischen Umhänge und eine Weihnachtsmannmaske an, lief durch die Straßen von Salamiyah und verteilte seine Geschenke aus einer großen Einkaufstasche der nationalen Einzelhandelskette. Wir erkannten ihn sofort an seinen schwieligen Händen, posaunten es aber nicht heraus, weil wir uns so freuten, dass Onkel Thaer uns Geschenke brachte.

Nach ein paar Jahren wurde ihm sein Weihnachtsmannkostüm zu langweilig. Er tauschte es gegen Gorillamaske und Gorillahandschuhe aus und spielte fortan den Silvester-Weihnachtsmann als Gorilla. Obwohl er furchterregend aussah, hatten wir Kinder keinerlei Angst vor ihm, sondern feierten ihn und tanzten lachend um ihn herum. Außerdem tauschten wir Geschenke mit ihm aus: Er gab uns Spielzeug und wir gaben ihm dafür ein paar Schachteln seiner Lieblingszigaretten.

Mein Onkel Thaer hatte ein sehr bewegtes Leben hinter sich. Er hatte die Schule nach der sechsten Klasse verlassen und war mit sechzehn Jahren nach Libyen gezogen, um in einer der berühmten Brunnenanlagen des Landes zu arbeiten. Ein paar Jahre später kam er nach Syrien zurück und bekam einen Job in einem Aufforstungsprojekt in der Nähe von Salamiyah, bis er sich schließlich mit Gasflaschen selbständig machte. Eine ganze Weile wohnte er neben uns im Erdgeschoss, füllte dort Gasflaschen auf und verkaufte sie in der ganzen Stadt. So kindlich Thaer in seiner Persönlichkeit geblieben war, so geschäftstüchtig war er gleichzeitig.

Zum Beten ging er immer in die Hauptmoschee von Salamiyah und trug dabei seine traditionelle libysche Tracht. Dieselbe Tracht nutzte er später als Verkleidung, um für die Revolution zu demonstrieren, doch er flog auf und die politischen Aktivitäten meines Onkels brachten meinem Vater ein Verhör im Nationalen Sicherheitsrat ein, wo er aber anhand der Ausmusterungsdokumente belegen konnte, dass sein Bruder Thaer vom Militärdienst befreit worden war und ob seiner geistigen Entwicklung vollkommen ungeeignet gewesen wäre, eine Demonstration anzuführen.

Thaer, der bis heute täglich drei Schachteln Zigaretten raucht und sieben Krüge Matetee trinkt, hasst alle Tiere, liebt rotes Fleisch, volkstümliche irakische Gedichte und ägyptische Popmusik und ist strikt gegen die Heirat. Er war ein sehr schlechter Buchhalter, aber sehr gut gelaunt, wenn er sein Geld zählte. Er war eben das, was man einen humorvollen Geizhals nannte. Thaer half seiner Mutter erst mit ihren schwerbehinderten Kindern, dann ihr selbst, als sie schwer erkrankte. Und obwohl er schon vierzig Jahre alt war, als meine Großmutter starb, weinte er ohne Unterlass und sagte: „Ab heute bin ich ein Waisenkind.“ Ich versuchte ihn zu beruhigen: „Onkel, du bist doch schon viel zu alt, um noch ein Waisenkind zu sein“, aber er blieb dabei: „Wenn selbst der Staat mich als zu unreif für den Militärdienst abstempelt, dann bin ich eben doch eine Waise“, zog in das Zimmer seiner Mutter, schlief in ihrem Bett, trug den Ehering seines Vaters und sagte zu mir: „Ich bin jetzt ein Friedhof.“

Nach seinem Talent für das Befüllen von Gasflaschen entdeckte er seine Gabe, Zatar zu produzieren. Er kaufte einen Trockenröster und begann, hausgemachten Zatar zu verkaufen. Schnell wurde er auch damit sehr erfolgreich, und weil meine Freunde und ich ihn unterstützen wollten, gründeten wir die Facebookseite Salamiyah Zatar, auf der wir zu seiner großen Freude Fotos von ihm posteten. Wir gaben uns als Journalisten aus und machten ein Videointerview mit ihm. Als wir ihn dabei über das Geheimnis seines köstlichen Zatars ausfragten, sagte er: „Das Rezept ist von meiner Mutter. Das Geheimnis liegt in dem Gewürz Sumach, aber mehr als das werde ich niemals verraten.“

Thaer nahm seine Arbeit sehr ernst, er druckte Visitenkarten und verteilte sie in allen Geschäften. Kurz nachdem er der berühmteste Zatarhersteller der Stadt geworden war, war er zufrieden, begann sich zu langweilen und stellte die Produktion ein.

Als ich Thaer verließ und nach Deutschland floh, hatte ich oft Alpträume, in denen ich sah, wie er bei meiner Abreise in Tränen ausbrach. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns endlich über Skype wiedersahen. Ich hatte keine Ahnung, was in der Zwischenzeit bei ihm passiert war. Damals auf Skype war Thaer zum ersten Mal in seinem Leben rasiert und trug saubere Kleidung. Als ich ihn fragte, warum er so elegant sei, antwortete er: „Ich komme von der Arbeit.“ Ich gratulierte ihm und fragte, was denn seine Arbeit sei. „Ich wasche jetzt die Toten“, sagte er stolz. Mir verschlug es kurz die Sprache, doch er lachte nur: „Hast du jetzt etwa einen Schreck bekommen?“

„Nein“, sagte ich, „ich habe mich nur gerade gefragt, wie du dieses Talent entdeckt hast?“

Er antwortete: „Vor Jahren, als ich die Leiche meines Onkels Munier gewaschen habe, merkte ich, dass ich keine Angst vor dem Tod habe. Weißt du, der Tod ist nur die letzte große Pause. Er ist eine Erlösung und eine wunderbare Gelegenheit, um ein bisschen zu plaudern und umsonst zu essen. So viele Menschen wollen von mir gewaschen werden, es gibt sogar schon eine Warteliste. Jetzt gebe ich schon Rabatte für Familien, die mehrere Personen gleichzeitig verlieren, und von armen Familien nehme ich sowieso weniger. Inzwischen betrachte ich jeden Menschen, der mir begegnet, als zukünftiges Projekt, und aus Spaß frage ich schon meine Freunde, wann sie denn endlich sterben würden. Außerdem verkaufe ich Kaffee für die Trauergemeinde. Einige nennen mich deswegen bereits Scheich. Es gibt eigentlich nur eine Sache, die mich stört: Dass ich die Märtyrer nicht waschen darf. Dürfte ich die Märtyrer waschen, wäre ich der reichste Syrer auf der ganzen Welt.“

Ich unterbrach ihn: „Für einen Märtyrer ist das Blut sein Leichentuch.“

Da wurde er ärgerlich: „Du wirst immer arm bleiben, Lina. Mit Lyrik verdient man kein Geld, geh und wasch ein paar Tote in Deutschland, vielleicht verdienst du dann auch mal was!“

Als ich ihm erzählte, dass die Leichen hier meist verbrannt wurden, war er schockiert: „Ja, aber waschen sie die Leichen denn vor der Einäscherung gar nicht? Wenn dem so ist, danke ich Gott, dass ich nicht in Deutschland lebe.“

Am Ende unseres Skypegesprächs bat er mich noch, eine Marketingkampagne für sein Bestattungsinstitut auf Facebook zu starten, und ich versprach ihm, seine Geschichte aufzuschreiben, um ihn auch hier in Deutschland berühmt zu machen. Ihn, den geschäftstüchtigen Weihnachtsmann von Salamiyah. Doch er entgegnete nur: „Es bleibt noch offen, wer hier wen berühmt machen wird. Ich bin zwar ein Analphabet, aber schick mir trotzdem ein paar Kopien von deinem neuen Gedichtband, damit ich in den Trauerhäusern Werbung für dich machen kann.“

 

Nachgedichtet von Annika Reich

Der Text wurde zuerst in der Kolumne 10nach8 auf ZEIT ONLINE  veröffentlicht.

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Lina Atfah Nino Haratischwili

Lina Atfah & Nino Haratischwili

Lina Atfah und Nino Haratischwili schreiben beide ohne Angst. Sie scheuen weder große erzählerische Bögen über Generationen hinweg noch Themen, die sie in Gefahr bringen.

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