Ich habe Flügel, endlich
Ingeborg Bachmann und die Gruppe 47 aus syrischer Sicht
Im Februar 2014 rollte mein Kopf wie ein Fußball über eine Straße in Aleppo. Die Augen geschlossen, Blut lief aus der Nase, mit mir überschlugen sich Ingeborg Bachmanns Worte: „Jeder, der fällt, hat Flügel.“
Ich wollte mich in den Tod stürzen in Erwartung der Flügel, die mich in eine andere Welt bringen sollten. Eine gerechtere, menschlichere Welt, in der Liebe nicht grausam war. Das Auto, vor das ich mich geworfen hatte, war ein Militärfahrzeug. Als ich das bemerkte, war es schon zu spät. Es hatte mein Leben beenden sollen, ein Leben bestimmt von Krieg, unerwiderter Liebe, Checkpoints, Angst vor Verhaftung, täglicher Bombardierung, Hoffnungslosigkeit, Strom- und Wasserknappheit, Flucht von Freunden und Familie, dem Mangel an Dingen in einer kriegsgebeutelten Stadt.
Doch der Tod wollte mich nicht, wies mich brüsk ab, übergab mich dem Soldaten, vor dem ich geflohen war, gegen den ich laut demonstriert hatte. Ironie des Schicksals. Er half mir von der Straße, sein Gewehr streifte meine Stirn. Ich öffnete kurz die Augen, sah das Gewehr. Ein zweites Mal begegnete mir Ingeborg Bachmann, ich fragte sie: „Warum tut es so weh? Wie hat dein Herz sich vor dem Feuer gerettet? Warum kann ich das nicht?“
Mein Becken war gebrochen. Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war, musste ich drei Monate das Bett hüten, auf dem Rücken liegend. Die Worte des Arztes hallen noch in meinen Ohren: „Der erste Verkehrsunfall seit zwei Jahren. Sonst sind die Patienten Opfer von Granaten, Raketen, Bomben, Scharfschützen und Gasangriffen. Bei einem Autounfall verletzt zu werden, grenzt in Aleppo an ein Wunder.“ Er lachte.
Es war kein Verkehrsunfall, wollte ich sagen, sondern ein Selbstmordversuch, um dem Elend dieser Stadt zu entkommen. Doch ich schwieg. Bachmanns Gedicht kam mir wieder in den Sinn: „Jeder, der fällt, hat Flügel.“ Nun stürzte ich ohne Flügel in die Leere.
Im Krankenbett las ich Bachmann, rettete mich in die Poesie, gab mich ihren Liebesbeziehungen mit Paul Celan und Max Frisch hin, den Briefen an die beiden, dem endlosen Leiden, der letzten Zigarette, mit der sie ihr Leben verbrannte.
Die Bachmann wurde in den schweren Zeiten in Aleppo zu meinem ersten Flügel, sie half mir, wieder laufen zu lernen. Ihre Gedichte trösteten mich. Sie begleiteten mich, als ich in einer nahegelegenen Gärtnerei das Gehen übte. Vielleicht gedeiht ihre Poesie in den Blumentöpfen, sollte der Krieg in Aleppo eines Tages verstummen.
Ein Jahr war vergangen. Ich war dem Tod entkommen, dank dem Flügel, dank Ingeborg Bachmann.
Ich kam in Berlin an, im Gepäck ein schweres Erbe aus persönlichen Erfahrungen, Krieg, Liebe und Überlebenskampf. Noch immer hinkte ich. Der Bruch war unsichtbar, nicht im Becken – im Herzen. Das wurde mir erst bewusst, als ich mit einem Freund über Ingeborg Bachmann und ihre Beziehung zu Max Frisch sprach. Ich wollte mehr über sie erfahren. Dieses Mal mit dem bisschen Deutsch, das ich konnte. Sie sollte mich vor der Einsamkeit retten, mir helfen, zu mir selbst zu finden. Bereits in der Heimat hatte ich gespürt, dass in mir viele Identitäten wohnten, ohne dass ich mich für eine entscheiden konnte. Ingeborg Bachmann sollte mir helfen, mit dem Gefühl zurechtzukommen, es gebe keine Gerechtigkeit in der Welt. Von ihr erhoffte ich mir Kraft und Zuversicht für einen Neuanfang im Leben und im Schreiben. Sie gehörte zur Gruppe 47, wie ich überrascht feststellte, als ich das erste Mal über diese Verbindung und ihre moderne Literatur las, über die neue Sicht auf das Leben, die Literatur, das Schreiben, die Literaturkritik in einer sehr schweren Zeit. Darüber, wie ihre Mitglieder mit dem Alten brachen, die Trümmer des Vergangenen hinter sich ließen, vehement für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit eintraten. Das war mein kleiner Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit des Exils in Berlin. Schriftsteller hatten die Gruppe vor mehr als 50 Jahren gegründet, hatten dasselbe durchlebt wie ich jetzt: Zerrissenheit, den Wunsch, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, Krieg und Tod, Zerstörung heiliger Säulen, Wiederaufbau, das Neuschreiben auf den Trümmern der Vergangenheit. Gerne hätte ich in ihrer Zeit gelebt, mit ihnen meine eigene Sprache entwickelt, andere Gedanken gehabt und sie aufgeschrieben, wieder Glauben geschöpft. Ich hätte gemeinsam mit ihnen mitwirken können, die Welt schreibend besser zu machen.
An die Gruppe 47 dachte ich, als ich am Ufer der Spree stand, mein Leben hineinwerfen wollte, ohnmächtig. Ich fühlte mich in der neuen Stadt überfordert, allein, konnte mich noch nicht einmal verständigen. Immerzu hatte ich den Wunsch zu sterben, sah darin Lösung und Rettung. Die Füße waren mir schwer wie Blei, ich konnte kaum laufen in der Welt, die erbarmungsloser war als angenommen. Trümmer, Geister der Vergangenheit, Widrigkeiten der Gegenwart, ein Neuanfang ohne Familie, Freunde, Heimat. So viel Zerstörung, Kummer, Brutalität. Unerträglich. Warum diesem Leben nicht ein für alle Mal ein Ende setzen?
In dem Moment erschienen mir die Mitglieder der Gruppe 47, einer nach dem anderen. Sie setzten sich zu mir ans Flussufer, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch und andere. Wie aus einem Munde sagten sie: „Das Schreiben wird dich heilen, dir helfen weiterzumachen, zu gehen und wieder zu lächeln.“
Ich glaubte ihnen. Hatten sie nicht die neue deutsche Literatur begründet, alles Vorherige weggewischt, ihre eigene Welt erschaffen, trotz der Schwierigkeiten? Sie waren mein zweiter Flügel, den ich so bitter nötig hatte.
Mein drittes Treffen mit der Gruppe 47 war während eines Workshops von „Weiter Schreiben“. Jürgen Jakob Becker vom Literarischen Colloquium Berlin erzählte, wie sich die Gruppe in den Räumen des LCB getroffen hatte. Ich freute mich wie ein Kind. Hier hatten sie sich versammelt, waren umhergelaufen, hatten denselben Ausblick auf den Wannsee genossen wie nun ich.
Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Jene, die mir einen Flügel gegeben hatten, als ich im Begriff war zu fallen, hatten hier diskutiert, debattiert, gestritten, Bücher besprochen. Es gab keine Grenzen, alles war erlaubt, für das neue Schreiben, das helfen sollte, die Welt weniger grausam und hässlich zu gestalten.
Vor einigen Tagen sah ich in einer Berliner Buchhandlung ein Buch von Ingeborg Bachmann, auf dem Umschlag ihr Bild. Ihre gebrochenen, von Verlust gezeichneten Augen strahlten zugleich Stärke aus. „Ich habe Flügel, endlich“, flüsterte ich ihr zu.
Dieser Text erschien zuerst auf Zeit online.