Widad und Annett – beiden geht es in ihren Texten immer wieder darum, Spuren nicht zu ver-, sondern zu entdecken. In Archiven, auf der Straße und dem Körper der Frau.

Annett Gröschner über Weiter Schreiben

„Das Schreiben ist ein einsamer Beruf, auch wenn wir dabei in Caféhäusern oder Wartesälen sitzen. Wie gut, wenn wir von unseren Tastaturen aufschauen können, um mit anderen die Welt zu teilen.“

Unter Hunderten

von Annett Gröschner

Als ich Der Ort von Erinnerung beleuchtet las, kannte ich Widad Nabi noch nicht. Aber hätte mir jemand einen Packen Gedichte gegeben mit der Bitte, mir eins auszusuchen und Der Ort von Erinnerung beleuchtet wäre dabei gewesen, ich hätte dieses unter Hunderten ausgewählt. Es korrespondiert über Zeit und Geografie hinaus mit einem Gedicht, das ich vor 25 Jahren geschrieben habe:

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Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt

von Widad Nabi

Nicht nur Orte werden durch Erinnerungen erhellt. Auch wir Menschen werden durch längst Verlorenes erhellt, selbst dann noch, wenn wir alt geworden sind und an Alzheimer leiden. Dann führt uns unser Gedächtnis zurück an Orte, die wir aus der Kindheit kennen, obwohl wir viele andere Dinge vergessen.
Vielleicht waren es meine Begegnungen mit der deutschen Schriftstellerin Annett Gröschner, die mich glauben ließen, der Mensch habe das Herz von Lachsfischen. Sie legen Tausende von Kilometern zurück, um dann gemeinsam wieder an ihren Ursprungsort im Fluss zurückzukehren, an dem sie aus Laich entstanden sind.

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Die Giftschränke unseres Wissens

von Annett Gröschner

Ich habe eine Schwäche für Bibliotheken. Selbst für meine eigene, obwohl das nicht wirklich eine Bibliothek ist, eher eine Ansammlung von Büchern. Als ich vor vier Jahren aus meiner Wohnung flog und in eine nicht nur kleinere, sondern vor allem für den Stauraum fatal niedrigere Wohnung ziehen musste, schwor ich mir, dass kein Buch darunter leiden sollte. Ich habe sie alle mitgenommen und selbst die, die ich wegschmiss, weil sie kaputt, unbrauchbar, grauenhaft schlecht oder nicht mehr lesbar waren, hat mein Freund aus der blauen Tonne wieder herausgeholt und zurück in die Wohnung getragen.

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Das Haus und sein Geist

von Widad Nabi

Verlässt man einen Ort zügigen Schrittes, deutet das oft auf eine Abreise hin, manchmal beginnt so aber auch ein neues Leben, dachte ich, als ich mit Annett zusammen wieder aus dem Berliner Literaturhaus trat. 1890, als das Haus gebaut wurde, hatte niemand ahnen können, welche Schicksale es ereilen würden. Dieses Haus, das dreimal so alt ist wie ich.
An dem Ort, der einst wie ein verlassener Friedhof aussah, blühen heute nicht nur Rosen, sondern auch Poesie und das Leben. Doch seine Lebendigkeit ist mit seinem Gedächtnis verknüpft. Das Gedächtnis eines alten Gebäudes, das den Schrecken zweier Weltkriege in sich trägt.

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"المنزل وأرواحه.. "أغنية بالتناوب

وداد نبي

الخطوةُ المغادرة تدلُ غالباً على الرحيل، لكنها أحياناً تدلّ على بداية حياة جديدة لشيءٍ متهالك، هذا ما دار بذهني حينما كانت خطوتي تتقدمُ خطوة شريكتي الكاتبة الألمانية "أنيت كروشنير" أثناء مغادرتنا لمبنى بيت الأدب في برلين، المكان الذي يشكّل حسابياً أكثر من ثلاثة أعمار لي منذ أن تم بناء هذه الفيلا ما بين عامي 1889/1890، حينها لم يكن ليخطر لبال أحدٍ ما سيؤولُ إليهِ من أقدارٍ متعاقبة ومتناقضة على امتدادِ أكثر من مئة عام وأكثر.

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Vom Erlös aus Herzweichen und Waffen. Die Bauakte des Grundstückes Fasanenstr. 23

von Annett Gröschner

Ich kannte einmal einen Hüter der Bauakten, ein Urberliner mit traurigen Rabenaugen, der gerne einen über den Durst trank und die Geschichten beschützen zu müssen glaubte, die in den Bauakten versteckt waren, im schlecht entzifferbaren Sütterlin zwischen grüner oder roter Tinte und filigranen Zeichnungen. Er saß in einem Keller des Bezirksamtes, wo er die Entfeuchter am Laufen hielt und mit den Häusern sprach, die sich unter den Aktendeckeln verbargen, von manchen war nicht mehr als das Papier geblieben, die Objekte waren zerbombt, verbrannt, verfallen oder abgerissen. Als die Verwerter, Verkäufer, Spekulanten kamen, hat der Hüter noch eine Weile versucht, seine Häuser gegen sie zu schützen, bis man ihn genau deswegen entließ.

Er ging nach Hause und brachte sich um.

Seitdem geistert er durch jede Bauakte, die ich in die Hand bekomme, auch durch jene, die ich im Keller des Wilmersdorfer Rathauses las. Das dortige Bauaktenarchiv, versteckt im Dieselnebel der Tordurchfahrt, hat nur wenige Stunden in der Woche geöffnet und ist voller sogenannter Nutzer mit professionellem Tatendrang. Verwertung, Umbau, Neubau, vielleicht auch Spekulation. Die Akte der Fasanenstraße 23 hat fünf Bände und beginnt mit der Anzeige des Neubaus einer Villa des Herrn „Corvetten-Kapitain“ Hildebrandt. Feines Sütterlin mit Tusche auf gazeverstärktem Papier. Und nur der dafür Bestallte durfte mit grüner Tinte schreiben.

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 Barbara Heine-Schumann, Widad Nabi, Adriana Altaras, Ines Kappert, Wassim Mukdad