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Die Giftschränke unseres Wissens

von Annett Gröschner

Ich habe eine Schwäche für Bibliotheken. Selbst für meine eigene, obwohl das nicht wirklich eine Bibliothek ist, eher eine Ansammlung von Büchern. Als ich vor vier Jahren aus meiner Wohnung flog und in eine nicht nur kleinere, sondern vor allem für den Stauraum fatal niedrigere Wohnung ziehen musste, schwor ich mir, dass kein Buch darunter leiden sollte. Ich habe sie alle mitgenommen und selbst die, die ich wegschmiss, weil sie kaputt, unbrauchbar, grauenhaft schlecht oder nicht mehr lesbar waren, hat mein Freund aus der blauen Tonne wieder herausgeholt und zurück in die Wohnung getragen. Ihm sind Bücher noch heiliger als mir. Dabei können wir in der Wohnung kaum gehen, ohne gegen einen Stapel Bücher zu stoßen. Der Stapel auf dem Nachttisch neben meinem Bett ist inzwischen so hoch, dass ich um mein Leben fürchten muss, wenn ich nachts in Albträumen um mich schlage. Bücher sind Arbeit und Vergnügen zugleich. Als ich anfing, Germanistik zu studieren, machte ich das, weil ich einen Beruf suchte, bei dem ich ungestört lesen könnte, um später zu schreiben. Bibliothekarin fiel aus, weil die sich während der Arbeit nicht beim Lesen erwischen lassen durften. Ich weiß nicht, ob das heute immer noch so ist. Da, wo ich herkam, war für viele Lesen eine Krankheit. Ich habe mir dafür mein erstes und letztes blaues Auge geholt, von einem Liebhaber, der auf Bücher eifersüchtig war und mich traf. Aber Bücher waren zu der Zeit noch viel wert, vor allem die verbotenen, und ich habe von dem Hochhaus, in dem ich wohnte, immer ein Auge auf die Mülltonnen der Bibliothek gehabt, in denen sich Schätze finden ließen. Vor allem Schallplatten und Bücher von Ausgereisten, die ausgesondert worden waren. Später wurde, was nicht in der Bibliothek stand, auf verschlungenen Wegen besorgt und das Wichtigste mit Schreibmaschine mit fünf Durchschlägen abgeschrieben.

Dabei war meine erste Bekanntschaft mit der öffentlichen Bibliothek eine eher enttäuschende. Ich war in der zweiten Klasse. Wir gingen mit der Schule hin und wurden klassenweise aufgenommen. Die Regale der Bibliothek waren in Altersklassen aufgeteilt. Gelb, Rot und Blau, ich habe vergessen, welche Farbe für welches Alter stand. Man bekam am Anfang ein Leseheftchen, in das man alle ausgeliehenen Bücher eintragen sollte. Hinten im Heft gab es die Möglichkeit, ein paar Sätze darüber loszuwerden. Am Anfang war ich eifrig, fand jedes Buch interessant, aber bald hatte ich alle für mich relevanten Bücher meiner Altersgruppe gelesen und wollte die Bücher der nächsthöheren Altersgruppe ausleihen. Das aber verbot die Bibliothekarin. Wer zehn war, durfte nicht Bücher für Elfjährige lesen. Ich ging nicht mehr hin, sondern las die Bücher aus den Regalen meiner Eltern und Großeltern. Vor allem die Kriegsbücher aus den Regalen meines Großvaters hatten es mir angetan.

Erst in Berlin entdeckte ich mein Herz für Bibliotheken neu.

Vier Jahre habe ich, im Refugium der labyrinthischen Germanistik-Bibliothek der Humboldt-Universität sitzend, auf die Ruine am anderen Ufer des Kupfergrabens geschaut, von der ein Hauch von Rom oder Griechenland ausging. Das Neue Museum war nach den großen Bombenangriffen von November 1943 und Februar 1945 ausgebrannt, die linke Seite fast vollständig vernichtet, aus dem Gemäuer wuchsen Birken und Essigbäume. Einschüsse von Maschinengewehren zogen sich an der Fassade entlang. Auch die Fronten des Hauses, in dem sich die Bibliothek befand, waren durchlöchert von Maschinengewehrschüssen. Es schien damals, als wollte der Nachkrieg sich unendlich hinziehen, die Zeit nicht vergehen. In seiner Versehrtheit strahlte das Neue Museum Würde und Agonie gleichzeitig aus. Die vergoldeten Kupferbuchstaben unter dem Giebelfries waren wie durch ein Wunder vollzählig geblieben: ARTEM NON ODIT NISI IGNARUS – Nur der Unwissende verachtet die Kunst. Die Natur holte sich Jahr für Jahr mehr Terrain zurück, und das in Sumpf und Sand getriebene Fundament drohte nachzugeben. Erst im Nachhinein weiß ich, dass das der ideale Arbeitsplatz war. Abgeschieden, es fanden nur Eingeweihte den Weg in diesen Raum, mit einer Kulisse, die von den alltäglichen Zumutungen ablenkte. Ein Ort zum Nachdenken, jenseits der Hektik. So einen Platz wünsche ich mir heute mehr denn je. Die Bibliothek der Germanistik der Humboldt-Universität ist seit vielen Jahren in einem Souterrain am Hegelplatz untergebracht, ein einzig und allein pragmatischer Ort. Kein Ort zum Verweilen.

Weitere Bibliotheken, die in den 1980er Jahren mein Schreiben beeinflussten: die Bibliothek des Goethe-Institutes in Warschau, die Ostdeutsche eigentlich nicht betreten durften, die Giftabteilung der Deutschen Bücherei in Leipzig, in die man nur mit halbamtlichen Schreiben kam (ich las die feministische Literatur von Irigaray, Cixous und Bovenschen dort), und der Lesesaal der Naturwissenschaften der Staatsbibliothek Unter den Linden, weil er immer leer war und niemand einen störte, wenn man die Bücher las, die nicht ausleihbar waren. Es war vierzig Jahre nach dem Krieg, aber der Krieg war immer noch präsent dort. Universitätsbibliothek und Staatsbibliothek mussten sich den Raum teilen, die Mitte des Gebäudeblocks war eine Leerstelle. Der Hauptlesesaal war zerbombt und nicht wiederaufgebaut worden. In den Registerschränken und auf den Leihzetteln lebten Krieg und Nachkrieg fort. Viele der bestellten Bücher bekam man nicht. Der Kalte Krieg wirkte sich auch auf die Bibliotheken aus. Es gab die Stabi Ost und die Stabi West, und oft waren die bestellten Bücher auf der jeweils anderen Seite. Statt dies zu benennen, zeigte der Stempel auf dem Leihzettel als Grund:

Vermißt

Sonderstandort

Zur Zeit nicht am Standort

Kriegsverlust

Die Worte auf den Stempeln versuchte ich zusammen mit den Bibliothekarinnen, die schon in den Achtzigern Unter den Linden gearbeitet hatten, zu rekonstruieren, als ich mit Widad an einem Abend zu Beginn des Jahres 2019 in die Staatsbibliothek ging. Widad hatte die Bibliothek als Thema vorgeschlagen, weil ihre Bibliothek in Aleppo Ziel des Krieges geworden war.

Wir brauchten über eine Stunde, ehe wir den Lesesaal betreten konnten. Abgesehen davon, dass mein Ausweis abgelaufen war und in einem komplizierten bürokratischen Verfahren verlängert werden musste, wurde Widad wie ein Eindringling behandelt. Unfreundlich, ja barsch, wies die Bibliothekarin darauf hin, dass es Jahreskarten nicht für jede gebe. Man muss sich durch Vorlage eines amtlich beglaubigten Personendokuments für die Nutzung der Bibliotheksbestände legitimieren. Widads Aufenthaltstitel war für die Angestellte nicht ausreichend, um sie als Vollnutzerin zuzulassen. Widad bekam nur eine Monatskarte.

Die Frau war genervt von uns, wir machten Arbeit. Wir wiederum fühlten uns nicht erwünscht.

Überall auf der Welt werden grandiose neue Bibliotheken errichtet, in Riga und Astana, in Paris, Helsinki, Alexandria oder Amsterdam, in die jeder hineinspazieren, wo jede lesen kann. Nur in der Staatsbibliothek zu Berlin ist es ein Privileg. Soll es offenbar eins sein.

Ich schämte mich in Grund und Boden: für das Land, für die Stadt, für die Staatsbibliothek, dass sie den Erwerb von Wissen an Bedingungen knüpft, die nicht jede*r erfüllt. Auch die Kosten für die Zugangskarte wird einige vom Besuch abhalten, und anders als die öffentlichen Bibliotheken darf man die Staatsbibliothek Unter den Linden nicht ohne Ausweis betreten.

Doch als wir endlich im Gebäude waren, war es schön. Wir liefen durch die neuen Säle, schauten uns die Kunstwerke an den Wänden an, streiften durch die Gänge mit den Regalen und Widad erzählte leise, um die Lesenden nicht zu stören, von der Bibliothek von Aleppo und wie sie geschützt wurde vor den Granaten.

Im Grunde genommen wirkt der Krieg, der vor vierundsiebzig Jahren beendet wurde, in der Staatsbibliothek bis heute, nicht nur, weil Bestände unrettbar verlorengingen. Seit fast zwanzig Jahren gibt es den Eingang Unter den Linden nicht, ist er wegen Umbaus gesperrt durch einen überdachten Gang, der den Fußweg ersetzt. Und man fragt sich, warum es in der heutigen Zeit in Berlin so lange dauert, bis die Bibliotheken in den Zustand des 21. Jahrhunderts versetzt sind. Als Orte des Wissens und der Begegnung. Als Orte mit geringer Schwelle für Menschen ohne Einkommen, als Orte, an denen nicht konsumiert werden muss, sondern wo es nichts kostet, etwas Unschätzbares zu erwerben. In dem Fall Wissen und Bildung. Einst war es eine große Errungenschaft der Sozialdemokratie, Volksbäder mit Bibliotheken zu verbinden. Heute sieht man die Auswirkungen der jahrzehntelang auch mit Hilfe der Sozialdemokratie umgesetzten Einsparungen bei Bibliotheken (und Schwimmbädern), vor allem den städtischen. Auch wenn in den letzten Jahren einiges getan wurde, um dem schlechten Zustand abzuhelfen, platzen die Bibliotheken doch aus allen Nähten, sind Arbeitsplatz für die, die sich kein Büro mehr leisten können, für Alte, die unter Menschen sein wollen, für Migrant*innen, Schüler*innen oder Studierende. Die aus einer Privatinitiative entstandene Sonntagsbibliothek in der Amerika-Gedenkbibliothek ist ein Beispiel, wie viel Bibliothek bewirken kann und wie divers ihre Nutzer*innen sind.

Im Hauptgebäude der Universität der Künste ist im Moment eine Ausstellung der Entwürfe für die Erweiterung der Berliner Landesbibliothek auf dem Gelände der AGB am Halleschen Ufer. Die jungen Architekt*innen haben sich Gedanken gemacht, wie eine Bibliothek der Zukunft in Berlin aussehen könnte – als Ort der Begegnung und der Bücher. Es sind wunderbare Entwürfe darunter, in die man am liebsten gleich einziehen möchte. Bei dem Bautempo in Berlin weiß ich allerdings nicht, ob ich das noch erleben werde.

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