Die Straßen auf meinem Rücken
Aus den vielen Wohnungen, die ich verloren habe, sind mir nur die Rückenschmerzen geblieben. Neue Matratzen lohnten sich nie, so bekam ich stattdessen neue Schmerzen. Mit jedem Schlafplatz verlor ich auch Nagelknipser, Papiere, leere Dosen, verdorbenes Essen und meine alten Lieblingsklamotten. Mit jedem neuen Bett kam ein neuer Gott, der die Fremden um mich herum beherrschte. Irgendwann verlor ich auch meine Neugier auf die neuen Götter. Sie kennenzulernen wurde genauso interessant wie die Bekanntschaft mit einem Fahrkartenkontrolleur.
Immer wieder nehme ich mir vor, meinen alten, wertvollen Schlüsselanhänger für eine Wohnung zu benutzen, die mir gefällt. Doch dann finde ich den neuen Schlüsselanhänger aus Plastik schön genug und gebe den Schlüssel zurück, wie er war. Mit jeder neuen Wohnung lerne ich die Sprache der neuen Türen und verliere meine Stimme. Ich entdecke eine neue Angst und freue mich über sie. Mit jeder neuen Sprache überwinde ich auch diese Angst und hege neue Träume und Erwartungen. Bis ich auch sie wieder an eine neue Angst verliere, die mich auf die folgenden Jahre vorbereitet.
Die Wege, auf denen ich lief, zogen mich groß. Resigniert trug ich sie auf meinem Rücken, wo sie alt wurden. Ich gehe durch mein Leben mit erhobenem Kopf und krummem Rücken.
Ich rettete viele Straßen, indem ich sie mitnahm
Rettete sie vor Beschuss
vor neuen Besitzern
vor Wahlplakaten
Die Wege, auf denen ich nicht gelaufen bin, als ich es hätte tun sollen, spüre ich wie Pressluftbohrer, die auf meinen Rücken hämmern, um die Städte zu wecken. Mit ihren Fahrzeugen, ihren Menschen, ihren Verkäufern. Mit all dem Streit der Nachbarn und der Eltern. Mit dem Weinen der Mütter um ihre Söhne, die am Telefon einen Scherz über die Frauen des neuen Landes machen.
Die Wege lehrten mich, in der Nacht schneller und gegen die Fahrtrichtung zu laufen.
Sie brachten mir unvollständige Lieder bei … ich hörte ein paar Takte aus einem vorbeifahrenden Auto, die ich dann sang, bis aus einem anderen Wagen wieder etwas anderes erklang. Kein einziges Lied beherrsche ich ganz.
Ich wuchs auf, ohne mir Namen zu merken, Buchtitel, Namen von Schauspielern, Weggefährten. Dafür prägte ich mir den Geruch jeder Hand ein, die meine berührte. Die Hand des Freundes, die Hand der Geliebten, die Hand des Liedes, des Wortes, der Stadt, die Hand Gottes.
Die Erinnerung liegt in meiner Hand
Immer, wenn ich eine Hand suche
spüre ich in meine hinein, bis ich die andere riechen
und mir ihren Weg auf den Rücken laden kann
Ich laufe
mit den Straßen auf meinem Rücken und der Erinnerung in meiner Hand