Das Strafgericht
Ein verregneter Morgen. Seit langem stehe ich allein hier draußen und Regen, Schnee und Sonne setzen mir zu. Mein Gesicht ist matt und verdreckt, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man mich noch. Ich bin zu groß, als dass man mich übersehen könnte, aber mittlerweile bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich sehe, wie sich die Welt um mich herum verändert, aber mein Blickwinkel bleibt immer derselbe, obwohl ich weder im Boden verwurzelt noch an eine Wand genagelt bin. Mein Gesicht geht zum Auslauf und mein Rücken lehnt an der Wand des Hühnerstalls.
Die Bewohner kennen mich, seit sie hier sind, und betrachten mich als Teil ihres Lebensraums. Anfangs starrten sie mich noch an und pickten mir ins Gesicht, wenn ich ihr Bild zurückwarf. Sie wussten anfangs nicht, was Wirklichkeit und was Trugbild war, aber dann dachten sie nicht weiter über mich nach. Sie sind einfach zu faul, sich für irgendetwas zu interessieren, das sie davon ablenkt, ihre nimmersatten Mägen zu füllen. Ihr Leben ist von einfachsten Überlebensinstinkten bestimmt, nicht von kniffligen philosophischen Fragen. Sie gewöhnten sich an meine Anwesenheit und fanden sich damit ab, dass ich ihnen bei ihrem alltäglichen Leben zusehe.
Ich lebe hier wie alle anderen. Ich stehe unter dem Fenster des Hühnerstalls und beobachte die endlose Abfolge von Lebenszyklen, aber das Leben jedes Einzelnen ist kurz. Es beginnt und endet in meinem Gesichtskreis.
Ach, Verzeihung, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt! Ich bin ein alter Spiegel und stehe seit Jahren quer unter dem Fenster im Auslauf eines Hühnerstalls. Seit einiger Zeit wohnen hier sechs Hühner und ein Hahn, dazu sind nun fünf Küken gekommen, die vor mir hintereinander herlaufen, seit ihre Mutter, die große weiße Henne, sie verlassen hat. Ich kann sie mittlerweile schon auseinanderhalten, schließlich habe ich genug Zeit, sie anzusehen, wenn die Sonne ab und an hereinscheint und sie sich dösend an ihren Strahlen wärmen.
Alles, was sie tun, ist schlafen, mit ihren kleinen Krallen nach Würmern scharren, sie aus der Erde ziehen und in ihre Kröpfchen befördern.
Manchmal drehen die Würmer noch eine letzte Ehrenrunde in der Luft, wenn mehrere Schnäbelchen sich um sie reißen. Das Leben vergeht hier so langsam und eintönig, dass man sich an die stürmischen Tage nur blass wie an historische Ereignisse erinnert.
Unvergesslich aber ist der Tag, an dem der Hahn hier ankam. Der Hausbesitzer setzte ihn in den Auslauf und verschwand. Die Hennen hasteten panisch in alle Richtungen, denn sie waren selbst erst seit einer Woche da und noch nicht ganz an den Stall gewöhnt. Erst rannten sie auseinander, aber nur um sich nach und nach wieder zu sammeln. Sechs Hennen standen gegen einen Hahn. Ihr Gackern vermischte sich mit dem des Gockels, der statt zu krähen seinerseits gackerte und sich um sich selbst drehte. Ohne dass er es sich ausgesucht hätte, sah er sich hier einer feindlichen Hühnergruppe gegenüber.
Ich bin nur ein Spiegel und verstehe nicht viel vom Federvieh. Man sollte Hennen aber nicht unterschätzen, denn auch sie kämpfen um ihre Vorherrschaft. Stundenlang wurde der Hahn in einer, dann in einer anderen Ecke des Auslaufs belagert, er bekam Schnabelschläge auf den Kopf oder wo immer die Hennen ihn erwischten. und ließ in den Auseinandersetzungen mit ihnen so manche Feder. Es war ein langes Hin und Her in einem Kampf um Sein oder Nichtsein. Deshalb konnte ich nur schwer glauben, dass der hier eingesperrte, scheue, am Hals gerupfte und an der Brust noch nicht ganz gefiederte, heiser gackernde Hahn diesen Machtkampf überleben würde.
Der Hahn wusste allerdings instinktiv, dass er noch etwas anderes konnte als nur Schnabelspitzen auszuweichen, und dass er es bald tun musste, sonst würde er demnächst flügellahm in einer Ecke des Stalls liegen. Er passte einen günstigen Moment ab, näherte sich der kleinen braunen Henne von hinten und stürzte sich auf sie, wobei er schwankte wie in Seenot. Er packte sie mit dem Schnabel an ihrem winzigen Kamm, klemmte sie unter sich und begattete sie.
In den späten Mittagsstunden jenes Tages war der Krieg zu Ende. Der Putsch war gelungen, es herrschte Ruhe im Stall, der Gockel krähte rein und klar und verkündete damit den Beginn einer langen Herrschaft. Aus dem Kämpfer auf verlorenem Posten war ein Führer geworden und die Hennen, die ihm vereint die Federn gerupft hatten, waren schon nach kurzer Zeit nur noch gehorsame Weibchen, die ihrem Hahn wenn nötig sogar dabei halfen, eine der ihren zu hacken, wenn diese seinem stumpfsinnigen Gesetz einmal zuwiderhandelte. Er regierte ganz allein, und nichts war lauter als sein Kikeriki.
Aber jeder Alleinherrscher braucht auch einmal solche, die bei ihm in Ungnade fallen, und hält Strafsitzungen für sie ab, auch wenn sie ihre Sünde bereuen. Das Strafgericht über die große weiße Henne war ein Ausnahmeereignis in unserem Leben. Die Arme hatte nicht geahnt, dass sie für ihren Mutterinstinkt einen so teuren Preis würde zahlen müssen.
Es blieb nicht folgenlos, dass sie aufopferungsvoll ihre Eier bebrütete und sich dementsprechend von Hahn und Hühnergemeinschaft fernhielt. Später, als aus ihren Eiern flaumige Küken schlüpften, die hinter ihr herliefen, plusterte sie ihr weißes, von einzelnen schwarzen Tupfern überzogenes Gefieder auf, und wann immer sich jemand ihren Küken näherte, blähte sie ihre Brust, stieß Warnrufe aus und trug ihren Schnabel wie einen Speer vor sich her. Diese Situation machte es unumgänglich, dass der Stall geteilt wurde. Ein Zaun, mir mitten ins Gesicht gebaut, bildete die neue Grenze zwischen der Hühnerschar und der Familie der weißen Henne.
Im Daseinskampf gewann ihr Mutterinstinkt zwar für dieses Mal die Oberhand, doch blieb es nicht lange dabei. Die weiße Henne hatte bald wieder Sehnsucht nach der Gemeinschaft und danach, dass der Gockel sie von Zeit zu Zeit von hinten überraschte. Bald würde sie wieder Eier legen, und was würde ihr der Muttertrieb nützen, wenn niemand ihre Eier befruchtete? Sie pickte daher, als die Sinnenlust sie überkam, nach den Köpfchen ihrer Küken, scheuchte sie herum und stahl ihnen ihr Futter, um damit Reue zu bekunden und den Hahn um Vergebung zu bitten. Und sie trainierte ihre Flügel, bis sie wieder dorthin flattern konnte, wo die anderen Hennen unter der Hut des Hahns lebten. Und so flog sie eines Tages über den Trennzaun, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihre Sehnsucht schien alles andere zu überwiegen.
Die Hühnerschar aber bedrängte die Zurückgekehrte ohne Gnade, während der Hahn auf Distanz ging und seine Brust aufplusterte, als wüsste er, dass diese sündige Henne gleich würde Federn lassen müssen. Er stolzierte umher, während die große weiße Henne unter den anderen Hühnern verschwand, die nun ein für alle Mal ihre Rechnungen mit der Weißen begleichen würden. Sie kesselten sie ein und rissen ihr reihum die Federn aus Hals und Brust. Dann ließen sie von ihr ab und sie flog zu ihren Küken zurück, die sie nun wieder herumjagte und an denen sie all ihren Groll und ihre Verzweiflung über ihr würdeloses Dasein ausließ.
Die weiße Henne hatte zwar Reue bekundet, aber die Hühnerschar war noch nicht mit ihr fertig, und jeder Versuch ihrerseits, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, endete mit derselben Folter wie zuvor, bis der Hahn nach drei Tagen entschied, ein Machtwort in der Sache zu sprechen. Er lief in die Ecke, in die die Weiße sich verdrückt hatte, die anderen Hühner folgten ihm. Sie wussten, was sie zu tun hatten, wenn er gleich seine Macht demonstrieren würde, und kesselten die Delinquentin ein. Nun war sie dem Hahn ausgeliefert und musste sich seiner Herrschaft unterwerfen. Zwei Hennen hielten die Flügel der weißen Henne am Boden fest. Der Hahn pickte nun auf sie ein, bis sein Rachedurst gestillt und er sicher war, dass sie sich nie wieder auflehnen würde.
Und schließlich begattete er sie.