Löchrige Socken
Als ich klein war, besaß ich Dutzende löchrige Socken, die andere vor unsere Tür gelegt hatten. Sie waren der Socken wohl überdrüssig geworden oder es war ihnen einfach nicht gelungen, ihre hässlichen Füße darin zu verbergen.
Ich stellte mit den Socken alles an, was meine Fantasie hergab.
Wenn ich schlafen ging, stopfte ich sie in mein Kopfkissen und holte sie am nächsten Morgen wieder heraus, um sie in einen Strumpf zu stecken und mit den Kindern des Viertels damit zu spielen. Am frühen Abend versteckte ich mich unter dem Bett und formte die Socken zu Haustieren, um allein weiterspielen zu können.
Im Sommer warf ich die Socken in die Badewanne, setzte mich mit einem Besenstil vor sie und erklärte den stinkenden Drachen den Krieg.
Im Winter taugten die Socken gut als Versteck für Kleingeld und Insekten.
Besitzen wollte ich die Socken nie. Immer wenn ich sie anzog, bekam ich das Gefühl zu ersticken.
Erst jetzt beginne ich zu verstehen, was damals passiert war: Da waren die abgetragenen Socken, die andere aus Überdruss, Langeweile oder Mitleid vor unsere Tür gelegt hatten und die wir wiederum – womöglich aus denselben Gründen – vor die Türen anderer legten. Doch es war die Liebe, die übrig gebliebene Liebe, die andere vor unsere Tür legten, die uns jedes Mal zu erdrücken drohte, wenn wir nur daran dachten, sie anzunehmen, weil sie eigentlich anderen gilt.
Nachdichtung: Tanja Dückers