Der Gedanke
Für Eve, meine Tochter
Gerade bist du noch eine Idee, die aus meinem Kopf hinausrollt. Und schon beobachte ich dich neugierig mit deinen Schulsachen.
Diese Vorstellung ist das Einzige, das mich daran hindert, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.
Der Gedanke an dich macht mir weder Angst noch lässt er mich fürchten zu versagen.
Du bist die Idee, die winziger als ein kleines Korn begann und die ich vor den Vögeln meines Herzens beschützen will, weil ich sie liebe.
Die tägliche Idee in meinem Kopf interessiert sich weder für Kriege noch für Gedichte noch für die Belanglosigkeiten der Welt.
Du bist die auf kleinen Füßen im Nebenraum tappende Idee und ich fühle, wie mir ein zweites Herz in der Brust wächst.
Du sagst: Schau, Papa, während du mit einem Kajalstift etwas auf die Schranktür kritzelst.
Ich frage dich: Ist dies ein Bär und das ein Krokodil?
Du sagst: Ja.
Was stelle ich für dumme Fragen!
Doch ich frage weiter.
Ist dies ein Vogel und das ein Kaninchen?
Du sagst: Ja.
Ich wundere mich und frage weiter:
Bist du dies? Und bin ich das?
Du sagst nichts.
Ich bilde mir ein, du hättest ja gesagt, wie die Male zuvor.
Spät in der Nacht kehrst du als Überraschung in meinen Kopf zurück.
Und du sagst: Papa, ich will fliegen.
Ich sage: Ich auch.
Du schweigst, weil jemand dir die Freude an der Fantasie verdirbt.
Ich sage dir gute Nacht und schlafe nicht ein.
Ich halte die Augen offen – und sehe nichts.
Damit meine Gedanken dich nicht verderben, hole ich dich aus meinem Kopf heraus, lege dich in ein Buch oder neben die Blumenvase.
– Du wirst wachsen und eines Tages wird es dir zu eng hier. –
Wenn ich Missmut empfinde, werde ich dich bei dem Namen rufen, den du noch nicht kennst, und du wirst antworten.
Ich werde dich bei meinem Namen rufen und du wirst auch antworten.
Und ich werde dich bei einem anderen Namen rufen, der weder deiner noch der eines anderen ist, und du wirst ebenfalls antworten.
Wie viele Ideen, wie viele Gedanken bist du?
Nachdichtung: Tanja Dückers