Wiegenlied für das Erwecken von Geschichten
Auszug aus dem Roman „Das Herz eines Wolfs kochen“
„O Gott, lass sie einschlafen, o Gott, lass sie einschlafen, dann schlachte ich ihr eine Taube.“ Die Tanten sangen das Wiegenlied für die weinende Rima, damit sie einschlief. Sie küssten ihre blauen Augen und kämmten ihr blondes Haar. Als sie immer noch weinte, überließen sie Rima der Mutter. Ihre ein Jahr älteren Zwillingsbrüder Adam und Aram kamen dazu.
Das Wiegenlied erzählte, dass die Tanten eine Taube für Rima schlachten wollten, damit sie schlief. Aber ihr Cousin Ayham liebte Tauben, und wenn eine Taube starb, drang ein dünner eisenköpfiger Dorn in sein Herz.
Das Lied erzählte auch davon, dass die Zigeuner eine Frau, die sang, entführten. Sie hatte eine Mutter und einen Vater, konnte jemand sie benachrichtigen? Nein. Niemand.
Die Tanten erzählten auch, dass die Zigeuner Frauen und Kinder während des Safar Barlik entführten. Einige von ihnen kehrten nach vielen Jahren zurück und suchten nach ihren Familien, die inzwischen gestorben waren, auch nach Geschwistern, die sie über die Jahre verloren hatten, weil sie klein waren und vergessen wurden. Die Zigeuner im Safar Barlik entführten Frauen und Kleinkinder, und Ayham wiederholte es immer wieder: Die Zigeuner entführen Frauen und Kinder.
Die kluge Rima konnte vielleicht in den Augen lesen und die Angst einfangen. Die Geschichte machte besonders Ayham Angst, ein weiterer eisenköpfiger Dorn drang in sein Herz.
Adam und Aram lachten oft, wenn Ayham stammelte und stotterte, während er ängstlich die Geschichte von den Zigeunern und vom Safar Barlik erzählte.
Ayham konnte nicht einschlafen. Sein Körper fiel wie in Ohnmacht, und wenn er einschlief, machte er ins Bett, niemand wollte neben ihm schlafen. Aber Rima schlief neben ihm, als sein Körper anfing, angenehm zu riechen, wenn er um sie herum lief und wenn sie mit ihm spielte. Sie schlief auf dem Gras neben Ayham und er war nicht nass. Sie vergaß völlig die Bettnässe, als sie den Speichel ihres Kusses auf seiner Oberlippe sah. Es war wie blonder Flaum. Das geschah vor seinem Tod, bevor der Fluss ihn verschluckte, weil die Eisendornen in seinem Herz ihn so beschwerten. Das war noch vor dem Krieg, bevor Rimas Vater aufgehört hatte, die Familienversammlung zu besuchen, und lange bevor ihre Mutter gegangen war.
„Oh Gott, lass sie einschlafen, dann schlachte ich ihr eine Taube. Rima, kluge Rima, ihr Haar ist leuchtend blond.“
Die Tanten sangen das Wiegenlied für Rima bei einem Fest von Mala. Mala ist die Göttin der Dunkelheit und des Lichts, die Mutter der Schlangen, die Geliebte des Bienengottes und die Ehefrau des großen Himmelstiers. Es war eines der Feste, die von Noura organisiert wurden. Noura ist nicht ihr ursprünglicher Name. Sie ist eine Verwandte des Vaters, hat einen goldenen Teint und ihre Augen sind so blau wie die von Rima. Einmal ging sie ans große Küchenfenster durch Wände von Sonnenlicht, die von den dunklen Gitterstäben des Fensters unterbrochen wurden. Da nannte Rima sie Noura und meinte damit die Tante des Lichts. Der Tante gefiel dieser Name und alle anderen Frauen akzeptierten ihn.
Rima durfte ihnen Beinamen geben. Es waren keine Adjektive, sondern Namen, die ihre Besitzer verrieten. Die Namen waren für sie klar, aber die Erwachsenen stellten immer Fragen wie: „Warum heißt sie Karton?“
„Ihre Hand ist so trocken wie Karton“, und sie lachten vergnügt.
„Warum heißt sie Blatt?“
Sie erzählte ihnen, dass sie ein gelbes Baumblatt in einem Geschichtenbuch war und dass ihr Vater alle paar Nächte daraus Kindergeschichten vorlas. Die Erwachsenen schüttelten die Köpfe voller Bewunderung.
Rimas Vater hieß für sie Baba: „Rima, wo ist Baba? Liebst du Baba? Rima ist die Geliebte des Vaters“, skandierten die Erwachsenen.
Rimas Mutter hieß für sie Ma. Eine leichte, vielleicht alberne Verniedlichung ihres Namens Maha. Adam und Aram riefen sie Mama, aber Rima und Baba einigten sich auf den Namen Ma.
Manchmal war jemand mit seinem Beinamen nicht einverstanden, aber er hielt sich trotzdem daran, nur ausnahmsweise wurden die Namen geändert. Der Namensinhaber war allein verantwortlich für die Veränderung seines Namens; da Rima nur Beobachterin war, bestimmte sie die Namen nicht. Sie versuchte, das den Erwachsenen zu erklären, aber sie wollten den Kindern nicht glauben. So sind sie eben, die Erwachsenen.
Adam und Aram hatten im Laufe der Jahre viele lustige Namen bekommen. Damit ärgerten sich die beiden gegenseitig. Sie rauften sich ernsthaft und dann versöhnten sie sich wieder, und so immer weiter. Niemand wagte, Qais einen Beinamen zu geben. Auch Ayham wurde nie anders genannt, erst recht nachdem er sich in seiner Jugend vom Fluss verschlucken ließ. Er hatte sein Herz mit Rimas Herz mit einer Nadel mit giftigen Spitzen zusammengenäht. Dann war er ertrunken.
Es ist ein großes Talent, Angst und Namen zu erkennen, wenn es ringsum viele Menschen gibt und die Geschichten sich häufen. Das beunruhigte Rima, und sie konnte sich nur davon befreien, indem sie verschwand, also sich damit beschäftigte, hinter Katzen herzulaufen.
In dem einstöckigen quadratischen Landhaus der Familie lebten zahlreiche Katzen. Sie wurden auch ständig von anderen Katzen besucht. So lief die kleine Rima hinter ihnen her, zwischen den Lichtsäulen und den Beinen der Onkel unter dem Tisch bei dem Geschrei der Tanten.
Tante Karton packte sie an ihrem zarten Arm und vertrieb sie mit Gebrüll aus der Küche:
„Rima, hör auf, wie eine Heuschrecke herumzuspringen!“
Ihre Mutter lächelte sanft und Noura befreite Rima aus der Hand des groben Kartons und führte sie leise aus der Küche:
„Es ist das Fest der Mala, der großartigen schwarzen Mutter. Sie wird Mama und die Tanten aus der Dunkelheit heraus anreden und ihnen Licht versprechen. Komm, sei ruhig, mein Schmetterling. Sie liebt Kinder.“
„Und die Männer auch?“, fragte Rima wie immer bei jedem Fest.
„Es gibt nichts Dümmeres, als wenn die Götter mit ihnen reden“, antwortete Ma, während sie kleine Holzstücke, Gewürznelken und Anissterne zu kleinen Bündeln sammelte, die bald zu Weihrauch wurden. Die Tanten lachten; sie lachten nur, wenn abfällig über Männer gesprochen wurde.
Rima wurde aus der Küche vertrieben, mit ihr auch die übrigen Katzen, die sich in den Schränken und in den weißen Kräutertüten versteckt hatten. Rima rannte durch den Saal mit den Katzen, die ihr folgten wie ein Schwarm von Tauben, und ging durch die vordere Tür nach draußen auf die Wiese, deren Erde voll verschiedener Würmer steckte. Rima mochte Seidenraupen mit dem schwarzen Flaum, die zu Schmetterlingen wurden und deren Kokon die Geheimnisse ihrer Farben bewahrte.
Adam und Aram liebten die weiche Berührung der dunkelbraunen Würmer, die in der Erde lebten. Sie hatten keine Augen und man konnte nicht erkennen, wo der Schwanz war und wo der Kopf.
Die Cousins mochten die Insekten lieber. Mounir, Jamal und Hassan liebten große Kakerlaken mit glänzenden schwarzen Flügeln. Der Cousin Ayham sammelte gern Ameisen, da er befürchtete, dass jemand sie zertreten könnte. Um sie zu schützen, bewahrte er sie in seinen Taschen auf; so vermied er, dass eine neue Nadel sein zartes Herz durchbohrte. Sein Vater, Rimas Onkel, hatte seine Frau verlassen, vorgeblich wegen des Krieges. Böse Zungen erzählten, dass er in Beirut mit einer Tänzerin und Hotelbesitzerin lebte. Er kümmerte sich um die Gäste und um die Mädchen zwischen Beirut und Dubai.
Qais begnügte sich damit, sie alle zu beobachten. Er war der Größte von allen. Er ließ nur so zum Spaß die kleinen gelben Küken im Wassereimer ertrinken.
Der ältere Bruder von Qais war stumm und so groß wie ein erwachsener Mann; manchmal zählte man ihn zu den Kindern, ein anderes Mal zu den Onkeln. Bei jedem Familientreffen erzählte er seine Geschichten. Er redete mit Händen und Füßen, mit seinen Armen, Augen, Fingern und Beinen, er drückte seine Knie an die Brust, rollte und drehte sich auf den Rücken und wieder zurück, stand auf und begann, seine Hände in den Raum auszustrecken, zu pfeifen und sich zu drehen. Was auch immer er ihnen erklärte, zum Schluss spielte er die Szene mit dem getöteten Mann: Er tat, als ob er eine Pistole in der Hand hielte, zielte auf eine leere Stelle und sagte „Boom“, dann fasste er sich an seine Brust, ganz nah am Herzen, ließ sich auf die Hände fallen und warf seinen Kopf nach hinten. Die Kinder lachten und er freute sich. Die Tante Henne schrie:
„Ich habe euch doch gesagt, er sollte die Nachrichten nicht sehen. Ihr durftet ihm das nicht antun!“
Noura lächelte und zwinkerte ihm mit ihren hellbraunen Augen zu. Baba streichelte ihn über den Kopf und lachte. Sein Vater runzelte die Stirn und die Mutter zitterte.
Qais spitzte seine Lippen und schlug vor, mit ihm zu kommen und sich anzuschauen, wie die Küken ertranken.
„Oh Gott, lass sie einschlafen, dann schlachte ich ihr eine Taube.“
Die Anwesenheit der jungen Menschen störte die Erwachsenen. Wenn die jungen Menschen die Anwesenheit der Erwachsenen nicht beachteten und deren Unruhe vergaßen, schrien sie, überwältigt vom Glück über das Leben, das der Staub ihnen offenbart hatte.
Abu Qais – er wurde nicht nach seinem erstgeborenen stummen Sohn benannt – war der Größte, der Stattlichste und der mit den blauesten Augen unter den Männern. Er schrie:
„Wo seid ihr … Mütter, die ihr mit eurem Wahnsinn beschäftigt seid?“
Seine Frau zitterte wegen seines Gebrülls wie ein Espenblatt im Wind, und auch die Kinder zitterten im Wind des Gebrülls wie Espenlaub. Und Ayham zitterte ständig, auch ohne Geschrei.
Baba mochte kein Geschrei, er zog Adam und Aram schweigend am Ohr. Sie fingen an zu tanzen, um die vielen Würmer aus ihren Taschen zu schütteln, bevor sie das Haus betraten.
Niemand zog Rima am Ohr, sie war das einzige Mädchen in der Familie mit blauen Augen und leuchtend blonden Haaren, aber wie ein kleines gelbes Baumblatt stand sie neben Umm Qais und zitterte mit ihr.
Sie biss die Zähne zusammen, Rima auch. Sie hielt die Luft zwischen ihren Händen.
Das Geschrei der Tanten in der Küche übertönte das Geschrei der Tanten und Onkel im Saal.
„Oh, Gott!“
„Mala Tifa“, schrien die Tanten und streckten ihre Arme nach Gespenstern oben an der Decke aus.
Die Katzenaugen weiteten sich, wenn die Frauen schrien, zu den Fensterriegeln rannten und misstrauisch die Menschen betrachteten, als sähen sie Werwölfe, wie in dem Film, den Rima mit ihren Brüdern gesehen hatte, als Baba und Ma eingeschlafen waren. Es war ein Film über Werwölfe. In dieser Nacht weinten Adam und Aram und sie auch. Alle drei hatten Angst davor, dass die Wölfe sie verfolgen würden, wenn sie dem Fernseher zu nahe kämen, und dass die Nachbarn wach würden und ihre Eltern bestraften. Sie fingen an, laut zu weinen, vielleicht retteten die Nachbarn sie dann.
Der Wind ließ nach, als Noura kam, die Männer zogen sich aus dem Dorf zurück, die Mütter, die Tanten und die Kinder ruhten sich aus. Rima und das Blatt zitterten. Zwei Baumblätter an der Wand.
„Beruhige dich, beruhige dich!“
Noura fing sie auf und die beiden kamen zur Ruhe.
„Die süße Rima will einschlafen, damit ich ihr eine Taube schlachte“, singt Rimas Mutter, sie liegen in einem feuchten Bett mit der Kleidung, die die Tante des Lichts gebracht hat.
„Ich möchte nach Hause gehen“, weint Rima laut, Adam und Aram weinen noch lauter.
„Schließt eure Augen, damit die Engel des Schlafs euch besuchen und euch leuchtende Laternen schenken.“
„Es wird ein Monster geben“, weint Adam laut und Aram folgt ihm wie immer.
„Es gibt keine Monster in der Nähe des Zimmers deiner Tante, es wird von Gebeten bewacht.“
Dennoch wird noch mehr geweint und das Heulen wird lauter.
Hinter der Mutter, an der Tür, schauen die Tanten auf die drei Weinenden.
Zum Schluss hat Rima die Energie aller Erwachsenen erschöpft. Ma und Baba verließen das Dorf; sie nahmen Adam, Aram und Rima mit nach Hause in die nahe gelegene Stadt. Zurück blieben Cousinen und Cousins mütterlicher- und väterlicherseits und auch die Männer und Mala, die schwarze Göttin. Rima kam nach Hause und sah aus, als hätte sie vergessen zu weinen. Sie war froh, dass Qais nicht mehr da war. Denn er hatte seine Hand auf die Blume zwischen ihren Schenkeln gelegt und sie gekniffen, und das tat weh. Mit Pfiffen befahl er ihr, still zu bleiben und steckte seine zweite Hand in seine Hose. Sein Atem wurde schwerer und schneller. Er wandte seine Augen nicht von ihren ab. Rima hatte keine Angst vor ihm; sie befürchtete nur, dass er, wenn sie ihn ärgerte, Adam und Aram wehtun würde. Er steckte seine Hand in ihre Hose. Sie weinte nicht, aber sie stotterte, und jedes Mal fielen aus ihr ein paar Buchstaben und Wörter, wie es Ayham immer wieder geschah.
Rima war das einzige Mädchen in der Familie.
Rima war klug. Sie konnte die Angst und die Namen lesen.
Als Safar Barlik bezeichnet man die Einberufung der jungen Männer durch die Osmanen in Syrien und im Libanon für die Balkankriege und den Ersten Weltkrieg, weiterhin ist der Name zum Synonym für die berühmte Hungersnot in dieser Zeit dort geworden.
Abu bedeutet Vater von.
Umm bedeutet Mutter von.