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Die Reportage

Rabab Haidar
Weiter Schreiben, Rabab Haidar
Adel Abidin, Video Still “A Vision of the Future” (2017)

Es half uns Kindern nichts, dass wir stotterten, und dem Kameramann half es nichts, dass er herumschrie. Es nützte ihm auch nichts, dass die einzige Straße, die vor dem Krieg noch befestigt war, von Anfang an das Ziel der Gefechte gewesen war. Seit den Einschlägen der ersten Granaten war der Asphalt aufgerissen wie billiger Wandputz, und die Straße hatte sich in einen erdigen Pfad mit tiefen Löchern und Steinen verwandelt, die nach jedem Angriff woanders lagen. Der Kameramann stolperte mit seinem Stativ darauf herum wie ein Hund auf drei Beinen, was ihn noch wütender machte.

Mit ihm waren siebzehn Soldaten jenes Kampfverbandes gekommen, der unser Dorf von den Kämpfern der Gegenseite befreit hatte. Der Fahrer Abu Hussein al-Dhars hatte sie ins Dorf gebracht. Abu Hussein hatte keine Schneidezähne mehr im Mund und er dachte sich jedes Mal eine neue Geschichte aus, wie er sie verloren habe. Nur ein paar Backenzähne waren ihm geblieben. Einmal wollte er sein Gebiss bei einem Kampf mit Verkehrspolizisten, Wächtern oder Gemüseverkäufern verloren haben, dann wieder bei einem Streit mit einem Schmugglerkönig um eine berühmte Nachtclubkünstlerin, die Reisenden und Lastwagenfahrern ihre Dienste angeboten hatte. Je nach Abu Husseins Laune änderten sich die Versionen seines Zahnverlustes, und je nach den Umständen seines Lebens färbte er die Geschichten neu. Als der Krieg ausbrach und dem Handel zwischen Syrien und Irak Tür und Tor geöffnet waren – weiß Gott, was da alles über die Grenze gebracht wurde –, erforderte es seine Arbeit als Schmuggler, dass er sich an der Wüstenstraße ansiedelte. So kam es, dass immer mehr Steppentiere Eingang in seine Geschichten fanden. Einmal behauptete Abu Hussein nun, seine Zähne seien ihm bei einem Kampf mit einem Wolf abhandengekommen. Er habe den Wolf so lange gebissen, bis dieser die Flucht ergriffen habe. Zuweilen ließ er ihn in seinen Erzählungen sogar sterben.

Wir stellten uns vor die Kamera, so wie wir uns früher immer nahezu automatisch vor dem Schuldirektor aufgestellt hatten, vor dem Inspektor vom Ministerium oder vor dem Parteisekretär, der uns in Staatsbürgerkunde und Geschichte unterrichtet hatte: die Kleinen und die Jüngeren vorn. Deshalb stand auch ich in der ersten Reihe, in der Mitte, und die Älteren und Größeren dahinter. Ganz hinten standen Khalil und Mahmud, beide dreizehn Jahre alt. Mahmud war der Fülligste und Größte von uns allen. Ich war zehn. Neben mir stand der Jüngste von uns, Mahmuds achtjähriger Bruder, der nur ein Jahr lang zur Schule gegangen war. Danach hatte der Krieg begonnen und alle saßen seitdem nur noch ängstlich in ihren Häusern und niemand dachte mehr an Schule.

„Wir machen eine Reportage“, sagten die Soldaten. „Reportage“, sagte auch der Kamerahund, und die Großen unter uns wiederholten das Wort: „Reepoortaage“. „Reepoortaage“, wiederholte Abu Hussein erklärend, wir versuchten uns das Wort zu merken und bewahrten es im Mund auf, so dass kein einziger Buchstabe davon herausfallen konnte.

Wir mochten den Kameramann nicht und die Soldaten auch nicht, erst als die Reporterin auftauchte, änderte sich die Stimmung. Sie stellte sich hinter die letzte Reihe, Khalils Kopf genau neben ihrem Busen. Der Plan war, dass sie von dort aus zu sprechen beginnen, dabei auf die Kamera zulaufen und uns danach interviewen würde. Die ersten vier Versuche gingen schief und uns war egal, warum. (Einmal stolperte der Kamerahund über das Kabel, das er um seinen Arm gewickelt hatte und das auf dem Boden an irgendwelchen Steinen hängen blieb, und dreimal, weil wir es nicht bleiben lassen konnten, uns zur Reporterin umzudrehen.) Uns interessierte lediglich, wie die Frau sich jedes Mal wieder hinter Khalil stellte, der mit durchgedrücktem Rücken vor ihr stand und dabei seinen Kopf so nah wie möglich an ihren Busen rückte und sich praktisch an ihn anlehnte. Immer wenn der Dreh nicht geklappt hatte, musste sie zurück hinter Khalil, und dieser stellte sich immer wieder so steif hin, dass sein Kopf ihren Busen berührte. Danach erzählte Khalil uns noch lang und breit von dieser Berührung und davon, wie er auch einmal die Brust von Fatma, dem schönsten Mädchen im Dorf, berührt haben wollte.

Jedenfalls bemühten wir uns redlich, den Unsinn hinter uns zu bringen, aber bei den Interviews stotterten wir und niemand verstand uns, obgleich wir das, was uns nicht über die Lippen kam, mit Handbewegungen zu verdeutlichen versuchten. So ging die ganze Reportage schief. Unsere Mütter sagten, dass wir noch nicht gestottert hätten, als wir vor dem Krieg zur Schule gegangen waren. Wir Kinder begannen erst zu stottern, als drei oder vier Kriegsparteien um das Dorf kämpften und jede es mit Bomben, Raketen, Scharfschützen und Minen von den anderen befreien wollte. Die Reporterin ließ das Mikrofon sinken, dessen Spitze aussah wie unsere Eicheln, und wandte sich stattdessen den Männern des Dorfes zu. Der Hund mit der Kamera und dem Stativ humpelte ihr dreibeinig hinterher.

Wie uns Jungen ging es auch den Erwachsenen: Die Männer waren von der blonden Reporterin angetan; sie bemühten sich jedoch, gleichgültig zu wirken. Die Mütter – die jetzt zu eifersüchtigen Ehefrauen wurden – stellten sich auf den Fußweg gegenüber, beobachteten ihre Männer und beschlossen, dass die Haare der Journalistin schlecht gefärbt seien und dass Hasiba bint Manahil, die Dorffriseurin, die beim letzten Beschuss des Dorfes ums Leben gekommen war, ihr die Haare besser gefärbt hätte. Wir Kinder wussten außerdem, dass das dick aufgetragene Lippenrot der Frau klebrig war, denn Mahmud hatte nach Hasibas Tod aus den Überresten des Salons einen solchen Lippenstift bekommen. Seine Schwester war die erste Ehefrau von Hasibas Mann gewesen und hatte geschwiegen, solange Hasiba gelebt hatte, denn diese hatte sie – wie bei Zweitfrauen üblich – sehr grob behandelt. Als Hasiba starb, betrachtete Mahmuds Schwester sich als ihre legitime Erbin. Wir bemalten mit dem Lippenstift damals eine Orange, in die wir ein Loch bohrten. Um das Loch herum malten wir Lippen, und Khalil sagte: „Und jetzt die Zunge rein und den Saft raussaugen!“ Wir begannen reihum, Saft aus dem Loch zu saugen, und wir taten es mit filmreifer Hingabe.

Die Reporterin hielt nun den Männern das Mikrofon vor die Nase. Die Männer stotterten zwar nicht, aber sie blieben stumm, vielleicht weil sie traumatisiert waren oder weil sie fürchteten, dass die, die diese Reportage inszenierten, bald wieder besiegt sein würden und dann wieder jemand anderes käme und die Macht übernähme und dann jeder, der jetzt seinen Mund aufgemacht hätte, nach seiner Zugehörigkeit, seiner Loyalität und seinem Glauben befragt werden würde. So ein Machtwechsel vollzog sich bei uns zuweilen schlagartig alle paar Stunden, und die neuen Machthaber richteten dann immer als erstes ein Standgericht ein, bei dem Zugehörigkeit, Loyalität und Glauben abgefragt wurden.

Der Einzige, der für ein solches Gespräch in Frage gekommen wäre, war Abbud, der große Bruder von Khalil. Immer wenn er sah, dass Khalil eine Hand in der Hose hatte, verdrosch er ihn dafür, denn die Mutter der beiden war tot, die Zweitfrau seines Vaters erzog ihn nicht und der Vater war unlängst auch ums Leben gekommen. Also musste Abbud seinen Bruder Khalil umso heftiger schlagen, denn er hatte Angst um ihn. Aber Abbud konnte das Gespräch nicht führen, er hatte an diesem Tag Streit mit Fatma, weil die für ihren Soldaten kochte. Immer wenn dessen Armee wieder einmal das Dorf befreit hatte, kam dieser trottelige Kämpfer zurück. Abbud ertrug es nicht, wie Fatma dann zwischen ihrem Haus und dem Checkpoint hin und her lief. In diesen Momenten tröstete ihn sein Freund Hamad, mit dem er an derselben Oberschule gewesen war. Sie hatten davon geträumt, dort ihren Abschluss zu machen und eines Tages Ingenieure zu werden wie Hamads großer Bruder, der aber verschwunden war, nachdem er den Checkpoint der einen Gruppe passiert hatte. Er war nie am Kontrollpunkt der gegnerischen Gruppe angekommen.

Hamad lehnte an den Resten der Mauer von Hasibas Salon und hielt mit gelben Fingern eine Zigarette am Filter fest, so wie Männern das ansteht. Er spuckte in den Staub, verwischte den Fleck mit dem Absatz seines Schuhs und erzählte von Steinen, die er vom Himmel habe fallen sehen. Als sie aufschlugen, hätten sie sich in Städte verwandelt, die ihre Einwohner verschlungen hätten und in den Himmel gewachsen seien!

Die Reporterin entfernte sich verdutzt, und der Kamerahund lief ihr schweigend hinterher zu den Frauen des Dorfes. Bei den Frauen verhielt es sich so: Wenn der Mann noch am Leben war, dann konnte auch die Frau weiterleben. Wenn sie einen Sohn übers Meer geschickt und der heil angekommen war, war auch für sie gesorgt. Wenn sie ihre Töchter ins Ausland verheiratet und die dort überlebt hatten, überlebte auch sie. Die Frauen taten das, was sie tun mussten, im richtigen Maß und mit adäquater Hingabe oder Kühle. Sie waren ihren Männern eine Stütze, sie waren ihnen Mutter, Tochter und Katze. Die Männer nämlich seien im Krieg keine Löwen, sondern entweder kopflose Kampfhähne oder feige Hühner, sagten die Frauen zu ihren Söhnen und hofften, dass diese, wenn sie erwachsen würden, nicht wieder einen Krieg begännen.

Als die Reporterin bei den Frauen ankam, fragten die ihre Männer um Erlaubnis, stellten sich vor die Kamera und stießen Freudentriller aus.

Das Reportageteam verließ das Dorf mit Abu Hussein. In der Nacht darauf fielen wieder Bomben und Raketen auf uns, aber diesmal war es anders, denn diesmal verbreitete sich Gas. Es ließ uns husten und lähmte unsere Glieder, wir konnten nichts mehr sehen, mussten uns übergeben und wurden ohnmächtig.

Als wir die Augen wieder öffneten, waren wir noch immer Kinder und wir suchten unsere Mütter und unsere großen Geschwister. Fatma rannte noch immer zu ihrem vertrottelten Soldaten, Abbud beschimpfte sie und brach zusammen und Hamad tröstete ihn. Hamads Bruder kam aus seiner Verschwundenheit zurück, er rannte auf uns zu, und auch Abbuds und Khalils Vater war da. Jetzt befanden wir uns in der Stadt, von der Hamad erzählt hatte, der Stadt, die vom Himmel gefallen war. Sie wuchs zu uns herüber, verschlang uns wie eine Wolke und schwebte wieder zurück in die Luft. Hasibas Mutter war auch da, vielleicht auch Hasiba selbst, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls standen die Frauen so da wie am Vortag vor dem Reportageteam. Meine Mutter war auch dabei und auch die von Abbud und Khalil und die Zweitfrau ihres Vaters. Alle stießen Freudentriller aus und die Luft war wie Rauch. Hamad lief hinter Abbud her und der hinter Fatma, immer im Kreis um uns herum. Die Männer hielten sich an der Hand und tanzten eine langsame arabische Dabke, so gemessen, wie es Männern ansteht. Mein Opa war auch dabei und andere Großväter, die ich aber nicht kannte.

Und immer wieder fiel die Stadt aus Steinen auf die Erde, und immer wenn sie aufschlug, wuchs sie zu uns herüber und verschlang uns. Dann trillerten die Frauen wieder und sie erhob sich wieder zum Himmel.

 

Dieser Text erschien zuerst auf Zeit online.

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Rabab Haidar Ulla Lenze

Rabab Haidar & Ulla Lenze

"Es ist nicht leicht, im Krieg Atheistin zu bleiben", sagt Rabab. Mittlerweile habe sie einen Gott ziemlich nötig. Humor und das Gespür für die feinen Unterschiede in groben Machtgefügen verbinden die Texte der beiden viel fliegenden Schriftstellerinnen.

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