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Ein Kriegsbericht, der nicht traurig sein soll

Rabab Haidar
Übersetzung: Christine Battermann
Al-Tariqah (Der Weg), 2014; aus der Serie "Silsila", 166 cm x 250 cm. Foto: Sama Alshaibi, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Ayyam Gallery
Foto: Sama Alshaibi / Al-Tariqah (Der Weg), aus der Serie "Silsila", 166 x 250 cm, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Ayyam Gallery (2014)

Verlassen zu sein und verlassen zu werden gehört zum Krieg. Das war schon immer so. Darauf werden sich alle einigen können, die sich schon vor uns Syrerinnen und Syrern in einen Bürgerkrieg, einen internationalen oder innerstaatlichen Krieg, einen Umsturz oder eine langwierige Revolution gestürzt haben.

Wir Menschen lassen die, gegen die der Krieg entfacht wurde, im Stich, und unsere Verbündeten lassen uns im Stich. Die Kampfesethik verrät uns und wir verraten jegliche Moral, die in Friedenszeiten einmal herrschte. Männer lassen ihre Frauen und wir unsere Männer und Kinder im Stich. Wenn wir schließlich von der einen oder anderen Flut mitgerissen werden, verraten wir uns zu guter Letzt auch noch selbst.

Die Natur lassen wir auch im Stich, unser Kriegslärm ängstigt die Zugvögel. Sandflughuhn, Feldlerche, Drossel, Kasarka, Turteltaube und Bergkalanderlerche – sie alle werden dieses Jahr nicht in Syrien haltmachen. Wir verraten den Frühling und die jungen Blätter. Die herbstlichen Saatkörner finden keinen lebensfreundlichen Boden. Vielleicht verstecken sie sich im Kadaver eines Fuchses aus dem Osten der Syrischen Wüste. Wenige wissen, wie schön die Füchse der Ost-Ghuta sind, wie hübsch anzusehen, dass sie gefärbt sind wie mattes Gold und gern leichtsinnig mitten auf wenig begangenen Wegen stehen und Ausschau halten wie arglose und anmutige Wachhunde.
Die Natur wird uns verlassen, als hätte sie den Beistand der alten Götter erfleht, damit sie aus den Sagenbüchern erwachen: Der Regengott wird sich verhüllen und der Hüter der Sonne wird sie so nah an die Erde führen, dass diese zu sieden beginnt. Die Seuchen, die wir gesät haben, werden sich ausbreiten. Allgemein wird die Natur uns nicht mehr ertragen. Wir Verlassenen bleiben draußen. Die glücklichen Menschen aber, die kostbare Natur und die durchsichtige Hoffnung, die das Morgen umhüllte, verschwinden wie vom Wal geschluckt, demselben Wal, der auch den Propheten Jona verschlungen hielt – bis zu seiner Wiedergeburt zu dem Zeitpunkt, an dem das Leid der Erde vorbei war.

Hier und jetzt aber werden wir eine lange Kette bilden mit den goldenen Füchsen, den nicht mehr ziehenden Vögeln, den unzähmbaren Katzen, den streunenden Stadthunden, die den Leichen nicht nahekommen, und den wenigen übriggebliebenen, grauen Bäumen – all dem, was auf dieser Welt überflüssig ist.

Doch wir sind übereingekommen, nicht vom Leid des Krieges zu sprechen. Widmen wir uns stattdessen den menschlichen Fortschritten! Zu den positiven Aspekten des Krieges gehört die Erfahrung, wie flexibel, wandlungs- und entwicklungsfähig man ist. Man wird wieder erfinderisch:
So entdeckt man, dass eine Jeans kräftiger und ausdauernder brennt als zwei Liter Heizöl – das einem fehlt, weil es im Walbauch steckt. Natürlich muss man zwischendurch öfter den Kopf aus dem Fenster halten und ausgiebig Luft schnappen. Oder man kann die billige Edelstahlschüssel aus Mutters Küchenregal, die einem immer zuwider war – ohne dass je Hoffnung bestand, sie könnte zerbrechen oder verschwinden –, mit Ethanol befüllen, einen Docht aus dickem Baumwollstoff (einen Fetzen derselben alten Jeans) hineinstecken und ihn anzünden. Er wird länger leuchten als vier Kriegskerzen. Die mickrigen Kriegskerzen stinken nämlich und sind schnell niedergebrannt.

Der Überlebenstrieb tritt stärker, schärfer und reiner hervor. Man entdeckt wunderbare Fähigkeiten an sich, deren Existenz einem vor dem Krieg gänzlich unbekannt war. Beispielsweise hat man das Gefühl, dass die Bomben einen nicht umbringen werden, und sie tun es tatsächlich nicht. Oder man spürt, dass einem etwas zustoßen wird, und wird noch am selben Tag von einem vorbeifliegenden Splitter getroffen, ohne jedoch zu sterben. Es bringt einen auch nicht um, wenn man mehrere Tage gezwungenermaßen nichts isst, genauso wenig wie der Anblick eines Menschen, der kurz vorm Verhungern steht. Man stirbt nicht, es sei denn im äußersten Notfall, selbst wenn man es wünschte.
Und angesichts eines schnellen Todes durch eine Kugel, oder wenn jemand diese gesegnete Welt verlässt, empfindet man Neid, echten galligen Neid, so finster wie ein dämonischer Zauber.

Viele erdfarbene Menschen, verlassen und gegen den Tod aufbegehrend, werden eine Kette bilden mit dem Großteil der vogellosen Bäume und den Füchsen der Ost-Ghuta, mit allem, was auf dieser Welt überflüssig ist und was der Wal nicht geschluckt hat.

Doch wir sind übereingekommen, nicht vom Leid zu sprechen. Widmen wir uns der Liebe! Liebe gibt es auch in Kriegszeiten viel. Im Augenblick großer Umstürze steigert sich alles bis zum Äußersten: Die vom Krieg angefachte Liebe ist stärker, wenn auch kurzlebiger als die im Frühling oder durch eine Hormonwallung entflammte. Stärker als der Krieg ist sie, sage ich, und schneller als die Namensänderungen der bewaffneten Gruppierungen, um vieles flinker als die Militäroperationen der Amerikaner, die Manöver der Russen und die Ablösung der türkischen Jagdtrupps an der Grenze.
Die Liebenden müssen miteinander fliehen. Der Jugend bleibt keine Zeit, die Familie um Heiratserlaubnis zu bitten. Junge Mädchen mögen solche Abenteuer ja, und die jungen Männer sind meist Soldaten – in diesem Lager oder jenem.
Dem Soldaten bleibt in dem langen Krieg nur wenig Zeit bis zu seinem Tod in einem Graben, in den er unvermutet stolpert, weil seine Kameraden ihm aus Zeitmangel nicht mitteilen konnten, dass sie ihn ausgehoben hatten; oder bis er den Soldaten des dritten Lagers in die Hände fällt, dessen Namen die, die das Geschäft des Krieges betreiben, noch nicht bekanntgegeben haben.
Die Frau ist gezwungen, in aller Eile einen Mann zu heiraten, der sich nach Europa gerettet hat und, wie ihr die Vermittlerin und seine nächtlichen Videotelefonate garantieren, fähig ist, den Familiennachzug zu regeln.
Der Mann wird seine Frau zurücklassen und letztlich ins Wasser springen müssen, bevor oder nachdem sie für eine Strecke von nur zwei Kilometern in einen Gummireifen gestiegen ist, den das Meer nicht unter sich begraben wird – solange die Wellen nicht höher als fünf Meter und nicht schneller als zwanzig Knoten sind.
Die Männer werden die Frauen einem Geschlechtsleben überlassen, das sich parasitenhaft ausbreiten wird: Orgien, von denen wir außerhalb unseres „sicheren“ Landes hörten, in Europa und Amerika beispielsweise, und durch das, was über die Regenbogenpresse und Geschichten reiseerfahrener Leute zu uns drang. Die Frauen werden eine Revolution ausrufen, indem sie ihre Jungfernhäutchen mit den Fingern zerreißen und das Ganze auf YouTube einstellen. Und weil Medikamente knapp und Ärzte teuer sind, sind Hebammen wieder sehr gefragt – und Abtreibungen mit Hilfe von Granatapfelruten, zimtgeschwängertem Wasserdampf, Gebeten und den Amuletten aus Steinen, die beim Ausheben der Gräber ans Tageslicht gekommen sind.
Die Organisationen der übrigen, vereinten Welt stehen den vor unseren elenden Gesetzen geflohenen Homosexuellen bei – unter der Bedingung, dass sie während der Interviews Tränen vergießen. Sie unterstützen ein paar fotogene Frauen und Kinder und lassen die psychisch angeschlagenen Männer, alle Ungenießbaren und die mit amputierten Gliedmaßen, die nicht mehr tanzen können, außen vor.
Die Männer wenden sich von uns ab und ihrem schnellen Tod und ihrer noch schnelleren Lust zu. Sie lieben uns noch, aber in Kriegszeiten ist die Frau ein schlimmerer Ladenhüter als ein trockener Brotfladen und ruft manchmal weniger Bewunderung hervor als ein Bund großer Radieschen.
Die syrischen „Frauen“-Organisationen, verantwortlich für uns vom Krieg ausgelaugte Frauen, werden den Preis für tadellosen Lebenswandel gewinnen – unter der Bedingung, dass sie gut mitspielen, unsere Stimme nicht laut werden lassen und unsere Botschaften nicht überbringen – außer den Fotos unserer vergewaltigten Schöße und den Bildern von Kindern mit aufgetriebenen Bäuchen.

Dann bilden wir Frauen und Kinder, die Amputierten, die von den Männern im Stich gelassenen Männer und die vogellosen Bäume eine lange Kette aus allem, was auf dieser Welt überflüssig ist. Wir taugen im Krieg nicht als Ersatzteile.

Aber wir sind übereingekommen, nicht vom Leid zu sprechen. Der Krieg wird uns ein neues und frisches Verständnis der Welt schenken. Den Dollarkurs werden wir eingehender studieren, als man es an der New Yorker Börse tut: Mit jedem Grenzübergang, der geschlossen wird, steigt der Dollar; wird dagegen eine Botschaft eröffnet, fällt er ein wenig. Nach den geheimen Treffen der Botschafter, die vom ganzen Volk und den Nachrichtensendern verfolgt werden, atmet – wenn das Treffen gut verlaufen ist – der Gemüsemarkt auf.
Flüchtende, die nach Süden ziehen, stehen bei der vereinigten Welt niedriger im Kurs als die, die sich nach Norden wenden. Söldner aus dem Westen sind zunächst weniger gefährlich als die aus orientalischen Ländern. Heimlich über die Grenzen eingesickerte Kämpfer sind blutrünstiger als die, die mit Flugzeugen kommen. Beide jedoch lassen den Dollarkurs steigen und erschöpfen den Gemüsemarkt.
Wir werden die Erfahrung machen, dass kleine inländische Projekte nur erfolgreich sind, wenn sie mit Alkohol, Haschisch und Frauen handeln oder illegal Dollars wechseln. Und dass das Geld des Auslands für die ins Ausland Geflüchteten uns keine Nahrung und Sicherheit bringt, uns weder unsere Mühe abnimmt noch das Erheben unserer Stimme. Das Geld bleibt bei denen im Ausland. Sie zahlen davon ganz wenig Steuern an ihre Gastländer, und es entstehen ein paar kulturelle Projekte daraus. Diese Projekte stellen dann bei Konferenzen und am Rande von Kino- und Theaterfestivals unseren Frust auf großen Flachbildschirmen zur Schau. Das heißt, dieses Geld hat weder Einfluss auf die Brennstoffpreise hier noch auf den Gemüsemarkt.

Doch halt jetzt, es reicht! Ich hab genug von den positiven Aspekten des Krieges, des Liebesmarkts und den Neuigkeiten vom Dollarkurs!
Vielleicht trete ich also doch wieder in die lange Kette, zu den Amputierten und Verletzten, den Füchsen, den unzähmbaren Katzen, den Vögeln, die nicht mehr ziehen, und den Bäumen: dem auf der Welt Überflüssigen, das ein Wal verschlungen und ein Künstler, der noch einen Tag vor dem Krieg unbekannt war, gemalt hat. Die Bilder wird man in Berlin zeigen, bei der größten Ausstellung dort: „Für den Wal und die Bäume“.

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Rabab Haidar Ulla Lenze

Rabab Haidar & Ulla Lenze

"Es ist nicht leicht, im Krieg Atheistin zu bleiben", sagt Rabab. Mittlerweile habe sie einen Gott ziemlich nötig. Humor und das Gespür für die feinen Unterschiede in groben Machtgefügen verbinden die Texte der beiden viel fliegenden Schriftstellerinnen.

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