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Fahrschule Kapitalismus (eine Deutschlandanalyse)

Rabab Haidar
Annimiertes GIF mit Händen und Faden für Weiter Schreiben © Sulafa Hijazi
© Sulafa Hijazi, Wege, Möglichkeiten, Verbindungen, annimiertes GIF (2022)

 

Meine bescheidenen Erfahrungen mit dem „neuen“ und dem „alten Land“, mit „Nostalgie“, mit den „Umstellungen“, vor denen sich die Menschen am meisten fürchten, mit „kulturellen Kollisionen“, die so viel über mich offenbaren, und mit ein paar anderen Kleinigkeiten des Lebens.

„Was für Käse?“, fragt der Mann an meiner Seite. Seine himmelblauen Augen sind weit aufgerissen, doch sein Gehirn weilt noch im Reich des Schlafs.

In meinem Kopf dagegen hat die Debatte schon den Siedepunkt erreicht. Kerzengerade sitze ich neben ihm im Bett. Ich wiederhole, diesmal ganz langsam: „Es geht um das Geld, das ich nächsten Monat für den Artikel bekomme, den ich zuletzt abgeliefert habe. Hör mal! Drei Jahre lang habe ich mit jedem kleinen Beitrag, den ich zusätzlich zur Jobcenter-Förderung verdient habe, neue Käsesorten ausprobiert. Mit diesem Experiment muss jetzt Schluss sein. Es ist an der Zeit, dass ich das Geld für etwas Verantwortungsvolleres ausgebe als für meinen Magen. Ich brauche dein systematisches, effizientes deutsches Gehirn, und diesmal höre ich sogar auf dich.“

„Was hast du da gerade gesagt? Du gibst deine Zusatzeinnahmen für Käse aus?“ Ich kann ihm seine Verwirrung ansehen.

„Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass in allen Supermärkten riesige Flächen nur für Käse reserviert sind: lange Gänge aus Kühlregalen, ein offenes Tor zu einer bunten Palette leckerer Molkereispezialitäten unterschiedlichster Konsistenz! Aber damit soll Schluss sein, und ich muss jetzt klug entscheiden.“

„Mein kluges Mädchen.“ Er zieht mich zu sich unter die türkisfarbene Samtdecke, die wir zusammen ausgesucht haben.

„Nein, Schatz, ich brauche deinen Rat.“ Ich winde mich aus seiner Umarmung. „Es ist ja nur ein kleiner Betrag, für mein syrisches Restaurant reicht er nicht, aber ich kann etwas anderes damit anfangen, zum Beispiel den Führerschein.“

„Den Führerschein!“ Er wiederholt die Worte, bemüht sich, endlich wach zu werden, verwuschelt sich das Haar, das goldene Haar, das Müttern und Tanten in meinem Heimatland ein ehrfürchtiges „Ah, golden!“ entlocken würde. Für meine widerspenstige mokkabraune Lockenmähne hätten sie dagegen vermutlich nur ein „Ach!“ übrig. Je blonder, desto besser, sagen die Mütter und Tanten.

„Ich brauche einen Kaffee.“ Er steht auf und geht in die offene Küche, vorbei an dem Esstisch mit den zwei leeren Weingläsern von gestern Abend. Durch die Vorhänge des großen Küchenfensters fällt schwach gelbes Licht.

Ob diese Atmosphäre an das Zweihundert-Quadratmeter-Junggesellenapartment in „Fifty Shades of Grey“ erinnert? Nein, sicher nicht. Nicht einmal an die bescheidene Wohnung von Anne Hathaways Freund in „Der Teufel trägt Prada“. Als mich mein Partner zum ersten Mal zu sich einlud, stellte er mir seine vier Wände mit den Worten „meine eineinhalb Schuhkartons“ vor, eine winzige coole Wohnung im riesigen coolen Berlin. Gestern Abend waren die eineinhalb Schuhkartons gerade groß genug für einen Stehblues zu Paul Ankas „Put Your Head on My Shoulder“.

Um das Gurgeln und Blubbern der Kaffeemaschine zu übertönen, hebe ich die Stimme: „Gut, dann fange ich mit dem Führerschein an, erst mal mit der Theorie. Oder – darüber denke ich schon eine Weile nach – ich mache einen Shibari-Workshop.“

Der Kaffee ist durch, meine Stimme noch erhoben, und so hallt der letzte Satz durch die Wohnung.

„Was?“ Jetzt ist er richtig wach!

„Shibari!“, wiederhole ich mit leiser, möglichst normaler Stimme. „Die japanische Kunst des Fesselns. Das ist sexy und sexbejahend, und es vermittelt eine intensive Lust an der Vorfreude und der Hingabe an den Augenblick; man fokussiert sich darauf, wie viel Druck jeder Körperpunkt, jedes Gelenk aushalten kann, das ist … Achtsamkeit!“ Das letzte Wort sage ich theatralisch wie auf der Bühne – wenn Gefühle jeglicher Art im Spiel sind, neige ich zum Pathos. Mein Partner meint, das liege an der Hot-Chili-Würze meines Temperaments; ich schiebe es eher auf die Normen meiner Kultur.

„Du willst also zurück in die Vergangenheit? Der Lust des Augenblicks nachgeben? Weg von deinem jetzigen Leben, deinen Plänen?“

Sein Einwand schmerzt, aber ich beschließe, ihn beiseitezuschieben und ein andermal darüber nachzudenken. Mich umstellen, um anzukommen, so lautet der Plan, den ich vertrauensvoll in seine Hände lege.

Intensiver Kaffeeduft breitet sich in der coolen Berliner Wohnung aus.

Ja, ich bin in Berlin, und ein Shibari-Workshop steht auf keiner der vielen Internetlisten mit den „Top-Ideen für Berlin“. Doch Shibari ist einer der verborgenen Flicken des Berliner Teppichs. Wenn mich Berlin, wie viele Städte zuvor, im Stich lassen sollte, wären wir durch diesen Flicken insgeheim weiter miteinander verbunden. Allerdings passt die Verbindung mit Berlin mittels Shibari nicht zu den Plänen meines Partners, der mir bei der „Umstellung“ von den bekannten und bequemen Normen meines Heimatlandes zur neuen deutschen Realität helfen möchte, damit ich den Schwebezustand überwinde und diese schwankende Landenge, die mir mittlerweile so vertraut ist, hinter mir lasse.

Ungeachtet der menschlichen Abneigung gegen jede Umstellung muss ich zugeben, dass seine deutschen Erfahrungen mit Veränderungen, historisch belegt, ziemlich erfolgreich sind: eine Aufgabe nach der anderen, ein Papier nach dem anderen, einen Schritt nach dem anderen! Wohingegen ich als Araberin – und wie ich höre, geht es Menschen aus Südamerika, Italien und Spanien nicht anders – Probleme lieber mit Intuition, Leidenschaft, Temperament und großer Geste löse.

„Okay, Shibari macht Spaß, aber es bringt dich nicht weiter. Lass mich nochmal auf die Fahrschule zurückkommen: Du kannst doch fahren, du hattest in Syrien einen Führerschein. Könntest du das Geld nicht auch sparen und gleich mit der Praxis einsteigen?“

„Nein, ich muss bei Null anfangen, mit der Theorieprüfung und allem Drum und Dran. Ich habe das Fahren im Chaos gelernt. Ordnung verwirrt mich!“

„Was? Warum?“, fragt er verblüfft.

Auch wenn wir guten Willens sind, wenn wir uns noch so sehr bemühen, Verallgemeinerungen und Stereotype zu vermeiden, ist die Kluft zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen ein Fakt. Fakt ist auch, dass sich diese Kluft mit all dem füllen kann, was Menschen mit dem Fremdartigen verbinden: Mutmaßungen, Missverständnissen, Misstrauen, Angst und Anfeindungen. Um die Kluft zu überbrücken, müssen wir Unterschiede zur Kenntnis nehmen, Fragen bearbeiten, zuhören und miteinander reden.

„Ich habe gesagt: Ordnung verwirrt mich! An Fahrbahnmarkierungen und vage angedeuteten Vorschriften kann ich mich nicht orientieren. Ich habe Mut, Mut braucht man. Zum Beispiel für die jugendliche Mutprobe, mit dem Auto auf dem Bürgersteig zu fahren: kein Problem um zwei Uhr nachmittags, wenn die Straßen leer sind und die wenigen Männer ein Mädchen am Steuer bejubeln, weil sie die Courage hat, das tief verwurzelte Dogma zu widerlegen, Frauen könnten nicht fahren und trauten es sich auch nicht.“

„Du bist auf dem Bürgersteig gefahren?“

„Nur einmal! Um Klischees aufzubrechen. … Tut mir leid, ich habe den Faden verloren. … Ich wollte auf etwas ganz anderes hinaus.“

Bravo, ich habe meine Gedanken schweifen lassen. Tief durchatmen …

„Es gibt schon Regeln, aber aus logistischen Gründen kann man sie oft nicht befolgen. Neue Straßen sind nicht unbedingt mit den gewohnten alten Wegen verbunden. Manche sind auch mit Betonsperren abgeriegelt. Auf einigen lassen wir uns von allgemeinen Vorschriften und der Vernunft leiten. Auf anderen fehlen sämtliche Vorgaben, da verständigen wir uns mit anderen Autofahrern und Fußgängerinnen – stillschweigende Übereinkünfte, gesunder Menschenverstand, Gottvertrauen und ein Schuss Abenteuerlust …“

(Hut ab vor den Taxifahrern, die sich auf jede Situation einstellen können. Je besser sie sich einstellen und je mehr Abkürzungen sie nehmen, desto teurer wird es. Wenn man einsteigt, muss man erst einmal mit dem Fahrer verhandeln, ob er – es ist immer ein „er“ – mit oder ohne Taxameter fährt. Das Taxameter bildet weder die echte Fahrstrecke ab noch die echten Anforderungen und den Aufwand für kreatives Fahren auf kürzeren und hektischeren Routen, und das immer absolut zuverlässig.)

„… und dann sind da noch die anderen Probleme, zum Beispiel mit den Bürgersteigen. Sie sind marode oder taugen nicht für den Fußverkehr, stehen unter Wasser oder stammen aus dem vorigen Jahrhundert, als es noch weniger Autos und mehr Pferdewagen gab. Wir müssen schauen, wie wir damit klarkommen, im Rahmen von Gesetzen, die relativ viel Spielraum lassen. Die es uns erleichtern sollen, unser Leben ‚auf die Reihe zu kriegen‘.“

(Hut ab vor den Verkäufern der kleinen illegalen Kaffee- und Zigarettenstände an den Kreuzungen kaputter Straßen, jungen Männern, die der Geheimdienst beauftragt oder für gut befunden hat: Sie retten eine Fußgängerin vor einem heranrasenden Auto oder sie helfen einem Autofahrer, der sich in einem der vielen Schlaglöcher unvermutet einen Platten gefahren hat.)

„Wir arbeiten zusammen – der Autoverkehr, der Fußverkehr, der Staat – und leben mit einem Regelwerk aus Vorschriften und Übereinkünften, die sich ziemlich logisch ergänzen.“

(Hut ab vor den unterbezahlten Verkehrspolizisten, die sich mit den Vorschriften auskennen, mit dem Zustand der Straßen, aber auch mit unserer Gefühlslage je nach Wetter und Tag des Monats: Am Monatsanfang gibt es ein Gehalt und etwas Schmiergeld, wir nennen es „Beschwichtigung“, in der Monatsmitte herrscht Stress, am Monatsende nur noch Verzweiflung.)

„Wenn wir wollen, dass sich etwas ändert, und glaube mir, das wollen wir, bekommen wir es mit dem Rohstoffmangel zu tun, wegen der Korruption – bei uns ist der Korruptionssumpf viel tiefer als bei euch. Oder Rohmaterialien können nicht verarbeitet werden, weil ein Konzern aus einem Industrieland in der jeweiligen Branche ein Monopol hat. Oder ein kapitalistisches Industrieland blockiert eine Technologie, aus Angst, sie könnte der Herstellung von Kriegsspielzeug dienen. Und ja: An der Spitze all dessen steht ein befremdlicher Typ, ein ewiger Herrscher, der von vielen erstklassigen freien Demokratien unterstützt oder akzeptiert wird.“

„Das ist schlimm.“

„Es ist, wie es ist. Jedenfalls gehören die stillen Übereinkünfte und der gesunde Menschenverstand zu ‚den Normen‘ dazu. Ein Bruch mit ‚den Normen‘ kann schmerzhaft sein wie ein Knochenbruch!“

„Na gut, du Dramaqueen, dann warte besser erst mal ab, bis deine Knochen der Verkehrssicherheit gewachsen sind.“ Der Mann an meiner Seite küsst mich, sein Geruch holt mich von den staubigen Straßen und dem vertrauten Lächeln auf den Gesichtern zurück ins Hier und Jetzt.

Wie stark verklärt die Nostalgie die Vergangenheit? Haben wir damals wirklich gelächelt?

„Bis dahin solltest du dafür sorgen, dass die Welt vor dir sicher ist.“ Der Mann an meiner Seite umarmt mich. „Hast du dir schon überlegt, in welcher Schule du den Deutschkurs machen willst?“

„Hm … tja … Und was ist mit Shibari?“

„Ernsthaft? Oh Gott!“

 

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Rabab Haidar Ulla Lenze

Rabab Haidar & Ulla Lenze

"Es ist nicht leicht, im Krieg Atheistin zu bleiben", sagt Rabab. Mittlerweile habe sie einen Gott ziemlich nötig. Humor und das Gespür für die feinen Unterschiede in groben Machtgefügen verbinden die Texte der beiden viel fliegenden Schriftstellerinnen.

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