Stella Gaitano und Ivana Sajko schreiben aus großer Distanz aufeinander zu und freuen sich beide auf das Abenteuer nicht zu wissen, an welchem Punkt sie sich treffen.
Brief 1
Von: Ivana Sajko
Gesendet: Mittwoch, 3. Februar 2021
Betreff: Lass uns anfangen!
Liebe Stella,
ich habe Dir diese Zeilen auch über den Messenger geschickt. Schau einfach, was Dir besser passt.
Herzlich, Iv.
Unsere Korrespondenz verdient eine kleine Einführung. Wir sollten uns am Dienstag, den 2. Februar um 15 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Gesellschaft von Dima Albitar Kalaji und Annika Reich per Video treffen, um uns für das Weiter Schreiben-Magazin über Essen und Identität zu unterhalten. Du riefst einen Tag früher an, hattest die Tage verwechselt. Am richtigen Tag und zur verabredeten Zeit warteten wir auf Dich, sortiert in die Kacheln eines Onlinemeetings. „Wieder Probleme mit dem Internet”, erklärte Dima. Fünfzehn Minuten später stießt Du digital zu uns, meldetest Dich aus dem Auto, während Du durch eine uns fremde Landschaft fuhrst. Du warst irgendwo im Sudan, „zwischen den Städten”, sagtest Du,
Brief 2
Von: Stella Gaitano
Gesendet: 5. Februar 2021
Liebe Ivana,
Es ist Freitag – Tag der häuslichen Pflichten. Ein Tag voller lauter Kinderstimmen, kichernder Gäste und im Waschbecken klirrendem Geschirr. An diesem Wochentag kochen wir ein traditionelles Gericht. Wir freuen uns die ganze Woche lang darauf. An anderen Wochentagen essen wir, wie alle Arbeiterinnen, einfach das, was wir im Kühlschrank finden. Doch der Freitag wird mit traditionellen Leckereien im Familienkreis oder auch mit unerwarteten Gästen feierlich begangen.
Brief 3
Von: Ivana Sajko
Gesendet: 12. Februar 2021
Liebe Stella,
vielen Dank für Deine wunderschöne Antwort. Genauso ist es! Geschmäcker sind immer eng mit dem Gefühl von Heimat und Behaglichkeit verbunden, sie tragen unsere Erinnerungen an bestimmte Menschen und Zusammenkünfte in sich. Ich mochte es zum Beispiel nie, wenn unsere Familie zusammenkam, weshalb ich auch jetzt noch Speisen meide, die bei diesen Gelegenheiten serviert wurden. Das war Essen, das ich unruhig aß, ohne Appetit, immer in der Erwartung jenes Funkens, der den Streit am sonntäglichen Mittagstisch entfachen würde. Andererseits erinnern mich einfache mediterrane Speisen an Zeiten, die ich mit Freunden verbrachte, und sie lösen Heimweh in mir aus. Diese Speisen wurden üblicherweise begleitet von einigen Flaschen Wein, stundenlangen Gesprächen und leidenschaftlich geführten Debatten über Politik. Meine Sardellen in Zitronensaft mit Rucola und Kapern oder frittierte Auberginen in Olivenöl mit Knoblauch wurden, bevor sie gegessen wurden, Zeugen Dutzender Komplotte für eine Revolution.
Brief 4
Von: Stella Gaitano
Gesendet: 21. Februar 2021
Liebe Ivana,
Du hast es so wunderbar lyrisch formuliert: „Wie aber kann eine Mutter in der Küche im Angesicht der geliebten Menschen streiken?“ Es sind die Liebe und die Fürsorge für andere, die uns als Frauen kennzeichnen – egal ob Hausfrauen, Kämpferinnen oder Feministinnen. Oder?
Wenn ein Mädchen bei uns nicht kochen kann, wird sie nach der Eheschließung zur Zielscheibe des Spotts für die ganze Umgebung. Ihre Mutter habe sie wohl nicht gut erzogen, heißt es. Daher übertreffen sich die Mütter darin, den Töchtern das Kochen beizubringen, und ignorieren dabei gute Schulnoten oder Prüfungsergebnisse.
Brief 5
Von: Ivana Sajko
Gesendet: 8. April 2021
Liebe Stella,
es hat einige Zeit gedauert, bis ich Dir antworte, doch ich habe über Deine Worte immer wieder nachgedacht und sie mit meinem Leben verglichen, mit meinen eigenen Zweifeln und Bemühungen, mit meiner Mutterschaft und meinem Leben als geschiedene Frau und schließlich mit meinem herausfordernden Dasein als Migrantin. In meinen Gedanken habe ich mich mit Dir unterhalten, spät nachts, nachdem ich meinen Sohn ins Bett gebracht und einen letzten Spaziergang mit unserem Hund gemacht hatte. Und ich habe mich gefragt, wieso es möglich ist, dass wir – obwohl wir so weit voneinander entfernt leben, obwohl wir in verschiedenen Kulturen und auf verschiedenen Kontinenten aufgewachsen sind – uns dennoch durch unsere Erfahrungen als Frauen verbinden können?