Noch bist du nicht vergessen – Brief 2
Batool (Pseudonym) an Marica Bodrožić, 18. August 2021
Übersetzung: Sarah Rauchfuß
Liebe Marica,
Du glaubst nicht, wie froh ich über Deinen Brief bin. Als ich Deine gefühlvollen Sätze las, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich dachte: Noch bist du nicht vergessen. Ein Weiterleben ist noch denkbar. Du kannst noch hoffen, irgendwo zu bleiben und zu wachsen. Ich habe Deinen Brief zwei Mal gelesen und dann mein Handy ausgeschaltet, um an Batterie zu sparen. Mein Kopf lehnte an der Scheibe eines gelben Taxis, das meinen müden Körper zu der Grenze auf der anderen Seite der Hügel trug, die von heißem Sand und Kieselsteinen bedeckt sind. Ich starrte auf den Staub im Herzen dieses Gemäldes und lauschte, inmitten der Sommerhitze an diesem verfluchten Nachmittag in Afghanistans schwärzestem Sommer, einer Todesstille, die es eilig hat.
Ich war dabei, Deine Sätze im Geiste durchzugehen und meine Gedanken mit der Kraft Deiner Worte zu umschließen, als mich die Stimme des Fahrers zurückholte. Er hatte eine filigrane Kette aus der Tasche seines Hemdgewands gezogen und schaute auf das goldene Blitzen in seinen Händen. Mein Blick ruhte auf dem Mund des Mannes. Ohne mich, die ich direkt hinter ihm saß, über den kleinen Rückspiegel anzusehen, sagte er mitten in die heiße, mit dem Geruch von Schweiß und Zigaretten geschwängerte Luft hinein: „Wenn du noch etwas aus Gold hast, kannst du es mir geben. Dann sag ich einem Freund auf der anderen Seite der Grenze, dass er dich in die Stadt bringen soll.“
Während er weitersprach, schaute ich auf mein nacktes Handgelenk. Mir stieg eine solche Wut in der Kehle hoch, mir war, als wäre mein Herz wie ein Blatt Papier zusammengeknüllt worden, und weinte jetzt stumm. Ich hielt mein Armband fest umschlossen in der Faust, versteckt vor den Augen des Fahrers, die er hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen hatte. Entgegen meiner Gewohnheit, die Dinge gut abzuwägen, sagte ich ihm: „Nein, ich habe nichts mehr! Sie fahren mich zur Grenze, dort wartet meine Mutter auf mich.“ Der Mann zuckte mit den Schultern und ließ die Kette wieder in seiner Tasche verschwinden.
Ich hatte gelogen. Meine Mutter wartete nicht an der Grenze auf mich und würde auch nirgendwo auf mich warten. Meine Mutter, mit ihren langen schwarzen, zu einem Zopf geflochtenen Haaren und blaugeblümten Kleidern, lebt schon seit Jahren nicht mehr. Der Fahrer stieß Zigarettenqualm hinter seinen verfärbten Zähnen hervor und drehte die Musik aus dem Radio etwas lauter. „Gottverdammte Taliban“, sagte er, „wie schnell sie die Städte eingenommen und die Leute zu Obdachlosen und Flüchtlingen gemacht haben. Und bei den Banken gibt’s kein Geld mehr, die Leute haben nichts zu essen.
Kannst Du das begreifen, liebe Marica?
Ich weiß nicht, ob Du jemals Taubenzüchter beobachtet hast. Wenn sie eine Taube domestizieren und sie ruhig und zahm machen wollen, dann nehmen sie die weißen kräftigen Flügel der Taube in ihre rauen Hände, halten sie zwischen ihren Fingern fest, während das Herz der Taube ganz schnell schlägt und sie panisch zu allen Seiten schaut, und dann stutzen sie sie mit der Schere. Danach lassen sie die Taube wieder los, auf den staubigen Boden, und sie durchkreuzt das Blau des Himmels nie wieder.
Ich bin gerade zu einer solchen Taube geworden, der man die Flügel abgeschnitten und die man dann in einen Käfig geworfen hat, dessen Türen offenstehen, und in einer Ecke kauere ich nun. Meine Leidenschaft, das Fliegen, haben sie mir genommen. Meine Seele haben sie mir zerdrückt, zusammen mit den Seelen aller Frauen und Mädchen aus meiner Provinz, und uns zurückgeworfen in ein Leben in dunkelster Vergangenheit.
Du kannst nicht wissen, liebe Marica, wie schwer die letzten Tage waren. Ich konnte nicht mehr laufen, die Stadt war voll mit Männern, die aus stumpfen Augen starrten und die Kleidung trugen, so schmutzstarrend, als hätten sie schon seit Jahren die Klarheit des Wassers nicht mehr gesehen. Sie trugen breite Tücher um den Kopf geschlungen und liefen mit ihren Gewehren über alle Rasenflächen der Stadt und zertrampelten die Blumen unter ihren Füßen. Wo sie in die Stadt einzogen, waren die Straßen plötzlich leer. Mit einem Wimpernschlag gingen die Lichter der Stadt aus und kein Geräusch drang mehr aus den Häusern nach draußen. Einzig die schrecklichen Lichter der Panzerfahrzeuge erleuchteten die Straßen, aus allen Richtungen waren Schüsse zu hören, das Atmen fiel mir schwer. Ich habe mich einmal für die stärkste Frau der Welt gehalten. An jenen Tagen zitterten mir Arme und Beine und ich dachte, ich laufe mich zu Tode. Ich war so müde wie noch nie zuvor in allen Jahren meines Lebens.
Ich habe die Grenze erreicht und die Taliban-Grenzsoldaten gesehen, die dort die Posten der Soldaten meines Landes eingenommen hatten. Ich musste meinen leblosen Körper und meine verängstigte Seele aus dem Taxi schleppen und meine Papiere Aasgeiern hinhalten, um meinen Körper in den Sand und Staub eines Landes zu bringen, das mir nicht gehört.
Marica, Du schriebst mir, dass die Jahreszeiten kommen und gehen und das Schattenspiel sich verändert. Dann hast Du meinen Lieblingspsychologen, Viktor Frankl, erwähnt und mir auch Sabina Spielrein zu lesen empfohlen. Wenn ich nur erst einmal auf der anderen Seite des Stacheldrahts angekommen bin, dann werde ich bestimmt auch wieder Frankl lesen. In Erinnerung an ein Zuhause, das ich unter tausend Gefahren verlassen musste, werde ich von der Hoffnung und vom Weiterleben lesen.
Mit lieben Grüßen
Batool
Übersetzt aus dem Persischen.
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Untold – Weiter Schreiben Afghanistan, ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben. Lesen Sie hier eine Erzählung von Batool, erschienen am 10. Februar 2022