Innere und äußere Landschaften II – Brief 3
Marica Bodrožić an Batool (Pseudonym), 24. November 2021
Übersetzung: Pegah Ahmadi
Liebe Batool,
langsam kommt schon der Winter, es ist die dritte Jahreszeit, nachdem Du in mein Leben gekommen bist. Ich halte mich geistig fest an diesem Wechsel, an der Arbeit von Licht und Schatten, an diesen vom Wetter gewendeten Chronologien, weil die Gewalt der äußeren Welt, die Dir zusetzte, die Dich aussetzte und die Dich zur Flucht und wieder zurück nach Kabul gebracht hat, noch immer etwas ist, das ich unfassbar finde und so verweigert sich mir die Sprache. Es ist schwer für mich zu ertragen, Dich in einem jählings ins Schlimmere gewendeten Leben zu wissen. Zugleich leuchtet mich Deine Kraft an, Deine stille Genügsamkeit, Dein genauer Blick und Dein Wille, durch all das hindurchzugehen. Auf der Erde ist das Licht, das keinem Gegenpol entspringt, in den Handlungen anderer Menschen anwesend. Ein Funke, immerwährend. Seitdem wir zusammengebracht wurden, kommt immer wieder der Gedanke in mir auf, dass wir in einer Welt leben, die uns gemeinsam ausmalt, ein Gemälde wird, von dem auch Du sprichst – selbst in dieser Lage, in die Du versetzt worden bist, als Du im Taxi den schwärzesten Sommer Deiner Zeit erlebt hast, auf dem Weg zu der Grenze, die, wie jede Grenze, das spiegelt, was die Menschen in sich tragen. Batool, wie Du erträgst Du diese Gewalt? Ich bin zutiefst bewegt davon, dass du selbst im äußersten Notfall – als Du Kabul verlassen musstest –, meinen Brief gelesen und wieder an Viktor Frankl gedacht hast, dass er zu mir und dann zu dir gesprochen hat und du wieder zu mir gesprochen hast. Ich konnte nicht wissen, dass Dir seine Bücher bekannt sind. Aber das überrascht mich nicht, etwas in mir, dieser Funke, hat mich innerlich Euch beide verbinden lassen. Dein brückenbauender Geist hat diese Verwandtschaft lange noch vor der Katastrophe ausfindig gemacht.
Ob ich die Gewalt begreifen kann? Nein, irgendetwas in mir kann das nicht. Aber den Hunger kenne ich. Ich stamme von hungernden Menschen ab, Batool, der Hunger meines Großvaters und der Hunger meines Vaters und der Hunger in meiner eigenen Kindheit – ja, dieser Hunger in mir, der erinnert sich, der weiß, was das ist, wenn es nichts zu essen gibt. Aber ich weiß trotzdem nicht, wie es ist, wenn einem ein Mensch durch verfärbte Zähne diese schreckliche Frage nach dem Gold stellt. Solche Fragen, meine liebe Batool, die kenne ich nur aus Büchern und aus Erzählungen von Menschen, die wie mein Großvater im Zweiten Weltkrieg Hunger und Not überstanden haben.
Vor Taubenzüchtern habe ich Angst. Ich will nicht lernen, so wie sie zu denken. Ich will meine Hände anderes lernen lassen, noch besser – mir von ihnen zeigen lassen, was sie mir beibringen wollen. Denn immerhin habe ich hier die Zeit dafür und kann an Dich denken und Dich fragen, ob Du auf der anderen Seite des Stacheldrahts angekommen bist oder ob das, egal wie lange Du in der äußeren Welt auf der Flucht bist, noch in Deinem Inneren anhält, jetzt, da Du wieder zurückgegangen bist, zurück in eine Stadt, die den Atem der Menschen anhalten lässt, die sich nach Freiheit sehnen. Dieses Bild von den Aasgeiern, das Du erwähnt hast in Deinem Brief, es hat sich tief in mich eingeschrieben. Du hast eindrücklich von Deiner Seele erzählt Batool, das hat mich wieder sehen lassen, wie der Körper und die Seele zusammenspielen, dass sie eine Einheit sind und dass es kein Luxus sein darf, über das nachzudenken, was das Gespräch zwischen ihnen bedeutet – ein Gespräch, das über unseren Atem geht, mit dem Atem zeigt, wie sehr wir Frieden brauchen, wie sehr wir Menschen, von innen gesehen, dieser Frieden sind. Wenn er nicht zerstört wird, wenn er nicht besetzt und getötet wird.
Als ich Dir im Sommer schrieb, leuchtete das Licht in meine Sprache und meine Gedanken reisten hoffnungsfroh zu Dir. Kabul war noch Deine Stadt, in der Deine Träume einzelne greifbar gewordene Kapitel Deiner gestalterischen Kraft in den Straßen Deines Lebens waren. Zwar war es zu ahnen, dass die Lage in Deinem Land sich zuspitzen würde und viele hatten schon auf die Gefahren hingewiesen, die dann auch Wirklichkeit wurden. Aber dennoch war es mir wichtig, Dich in Deiner Freiheit zu denken, Dir als einem freien Menschen zu schreiben. Dein letzter Brief zeigt mir, dass Du, der äußeren Lage zum Trotz, dieser freie Mensch bist. Denn alles, was später kam und wovon Du in Deinem Brief sprichst, zeigt mir Dich an diesem inneren Ort des Freiseins, an dem Du Dich nicht gefügt hast. Du bist nun vielen Routen und Spuren gefolgt, aber den Forderungen der Gewalttätigen hast Du Dich nicht ergeben.
Als ich vor einigen Wochen begann, Dir diesen Brief zu schreiben, sah ich im Fernsehen die Malerin Katharina Grosse. Sie wurde gefragt, welche Superpower sie uns Menschen wünscht. Sie antwortete: Hellsichtigkeit. Ich musste darüber nachdenken, obwohl mein Inneres sofort wusste, um was es ihr ging. Mein Brief an Dich ging auch ins Innere, musste warten. Die Malerin wurde aufgefordert, mehr als das eine Wort zu sagen, es zu erläutern. Aber sie verweigerte das. Sie wartete ein bisschen, sagte dann doch – Liebe; kam aber wieder auf die Hellsichtigkeit zu sprechen. Ich denke, Dir muss ich nicht erklären oder erzählen, wie das helle Sehen geht, dass es die Zeit überspringt und aus dem seelischen Sprung etwas Überzeitliches sichtbar macht. Dieses Hellere sieht mich in Deiner Sprache an, es sieht zurück in meine Fragen und ich lerne, ihnen gewachsen zu sein und in sie hineinzuleben. Ich denke in diesem Zusammenhang auch an Viktor Frankl, liebe Batool, an das, was er nach Auschwitz in seinen Texten immer wieder umkreist – jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, wie er es sagt, die jeden einzelnen Menschen auszeichnet und jedem einzelnen Dasein erst Sinn verleiht und das sowohl in Bezug auf ein Werk oder eine schöpferische Leistung als auch in Bezug auf einen anderen Menschen und dessen Liebe zum Ausdruck kommt. Ich stoße dabei an eine innere Grenze, wenn ich diesen Gedanken auch auf jene anwende, die anderen all das wegnehmen, was sie zu diesem Sein führt. Doch auch hier lasse ich Frankl sprechen, der einmal notiert: „Die unmittelbare Wirkung des Seins, des Vorbildseins, ist immer eine größere als die der Sprache.“ „Der Mensch ist“, so Frankl, „das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.“ Ich danke Dir Batool, dass ich teilhaben darf an Deinem Weg, an Deinen hell leuchtenden Entscheidungen.
Mit lieben Grüßen,
Marica
Übersetzt ins Persische.
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