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Ich bin Stärke, Wasser und Fett

Sam Zamrik
Bild mit essendem Mann © Yaser Safi
Yaser Safi, Acryl auf Leinwand 150 x 150 cm (2018)

Wenn es gilt, dass man ist, was man isst, dann bin ich Bissen und Krümel mit ein paar Prisen Gewürzen. Ich bin altbackenes Brot und Billigware, abgelaufene Konserven, Rost und Schimmel. Ich bin Stärke, Wasser und Fett.

Es hieß immer, niemand müsse in Damaskus hungern, ist Syrien doch ein großzügiges, üppiges Land. Es hieß, die Armen seien deshalb arm, weil sie sich nicht bemühten. Die sich immer weiter ausbreitenden, die Hügel und Berge des Landes hinaufkletternden Betonslums strafen diese Behauptungen Lügen. Der Slum, in dem ich aufwuchs, war nur einer unter vielen.

Mein Vater war mehr als zwanzig Jahre lang Koch gewesen. Er hatte keine offizielle Ausbildung durchlaufen und arbeitete in einer Zeit, in der das stabile Internet noch nicht in Syrien angekommen war. Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag und verköstigte Präsidenten und diplomatische Delegationen. Er kochte für Grundbesitzer und Kriegsherren, noch bevor der Krieg begonnen hatte. Eine Zeit lang versorgte er sein Kind mit den Resten aus dem Restaurant, für das er kochte. Bœuf Stroganoff, Hackbratenrollen aus zweierlei Sorten Fleisch, Hühnchen mit Kapern-Sahne-Soße und Kartoffel-Fleisch-Gratin füllten ein paar Jahre regelmäßig unseren Kühlschrank. Endlose Stunden schaute ich Fatafeat, den Kochkanal des Satellitenfernsehens, und stellte mir meinen Vater anstelle des jeweiligen Fernsehkochs vor. Aber mein Vater starb jung und hinterließ Schulden, hoch genug, uns innerhalb weniger Monate bankrott gehen zu lassen. Nahezu über Nacht wurde aus dem Kind ein kleiner, hungriger Erwachsener.

Meine Armut befeuerte meine Neugierde. Hunger und Wissensdurst geben sich gern für das jeweils andere aus. Beide sind sie unstillbar und anspruchslos, was die Quelle und den Umfang ihrer Versorgung angeht, solange sie nur kontinuierlich verpflegt werden. Meine Seele war arm. Ich konnte nicht genug bekommen. Mein Magen wartete in ständiger Aufwühlung. Ich wusste, was die Welt zu bieten hatte, welche Ausgaben Menschen sich leisteten, um ihre Mägen zu stopfen und ihre Zungen mit elaborierter Sprache aufzuplustern, und das alles war außerhalb meiner Reichweite.

In diesen Jahren verkauften meine Mutter und ich unsere Sofas, Kerzenhalter und Schränke für Essen. Mahlzeit um Mahlzeit leerten wir unser Haus, um unsere Mägen zu füllen. Jede Speise war Blasphemie. Leere Taschen verschlingen ganze Kulturen. Wir tunkten trockenes Brot in Wasser und zählten verschrumpelte alte Oliven. Tomatenmark kostete dreimal mehr, also vermählten wir unsere Spaghetti mit Ketchup. Schlagsahne kostete das Vierfache, also verbanden sich frischer Jogurt und Knoblauch zur Sahnesauce des armen Mannes. Mayonnaise beförderte sich selbst von der Zutat zum Aufstrich, trug den Knoblauch zur Schau, weil es nichts anderes gab, zu dem sie sich hätte gesellen können. Ein halbes Kilo Hummus reichte für ein paar Tage. Heiß wurde zum Geschmack und die Konsistenz musste alles Weitere ersetzen, weshalb eine andere Zubereitungsart derselben Zutaten die Illusion der Abwechslung vermitteln konnte. Unzählige Kartoffeln reicherten meinen Schweiß mit Stärke und Süße an. Stampfe sie, frittiere sie, backe sie, koche sie – aber nach einigen Tagen erschöpfen sich die Möglichkeiten. Frittierte Fadennudeln mit Zuckerrübensirup sind ein trauriger Nachtisch. Stärke, Stärke, Stärke. Stärke, Wasser und Fett sind Lebenserhaltung, aber keine Lebensmittel.

Mit regelmäßigem Stromausfall lebend, wurde Schimmel zu unserem ständigen Mitbewohner. Wir haben gegen ihn um unser Essen gekämpft. Wir haben um ihn herumgeschnitten, ihn abgewaschen oder uns gegenseitig davon überzeugt, dass er das Geschmacksprofil eines billigen Roqueforts zu bieten hätte – der Schimmel war gekommen, um zu bleiben. Er lebte in den Wänden, hinter den geronnenen Tropfen bernsteinfarbenen Öls. Die Küche roch feucht und ranzig, nur ein Kaffee spät in der Nacht oder ein seltenes Curry konnten den Geruch niederringen.

Wie andere Arme in den Städten entwickelte ich einen Sinn für die latente Spur von Urin in verbrannten Nieren, für die zahnschleifende Eisennote von frisch gekochtem Leberblut und den abgerundeten Geschmack von langsam gekochten, gefüllten Innereien, alles durchzogen von ungeheuren Mengen an Kreuzkümmel und Zitronensäure. Jeden Tag brachte ich meinen Magen zum Schweigen, nie aber meine aufgewühlte Seele. Glücklich waren die Tage mit Fleischstücken, weil ein Festmahl aus Hühnchen oder Koteletts die Anstrengungen des Tages verdauen half. Ein einfaches Grillhähnchen war eine Freude für alle Sinne, zarte Scheiben Kalbfleisch mit reichlich Zitronensaft und Knoblauch waren göttlich. Diese Dinge zu essen, war für eine arme Seele nicht wie das Verschlingen von Nahrung, sondern eher wie die Vereinigung mit heiligem Fleisch.

In jenem eigentümlichen Nirgendwo, in dem man sich befindet, wenn man sich in der düsteren Grenzstadt Eisenhüttenstadt um Asyl bewirbt, war das Essen niemals dermaßen knapp, aber auch niemals so gut. Dasselbe galt für andere Unterkünfte in Potsdam. Uns wurden Portionen aus modrigem Reis gereicht, der nach kranken, vom langen Gehen in festen Schuhen aufgeweichten und schließlich entzündeten Füßen roch. Dazu eine fragwürdig schmeckende rote Soße, die sich in ihre Bestandteile auflöste. Ich hatte zuvor schon Schimmel gegessen, aber jener Schimmel war mein Mitbewohner gewesen. Ich wusste, woher er kam, ich wusste, wessen Vernachlässigungen ihn hatten wachsen lassen, und kannte wiederum deren Ursachen. Der Schimmel in diesen Mahlzeiten dagegen war mir so fremd wie das Land, in dem ich mich nun befand, also aß ich, was ich kannte – nichts.

Nach ein paar Wochen mit Verlegungen von Asylunterkunft zu Asylunterkunft verbrachte ich die meiste Zeit außerhalb einer kleinen Stadt namens Doberlug-Kirchhain im Süden Brandenburgs. Dort hatte eine alte Soldatenbaracke dank erfolgreicher Lobbyarbeit ein Facelift verpasst bekommen und war in ein Heim für Geflohene verwandelt worden. Jeden Dienstag machten die Soldaten der umliegenden Baracken Schießübungen, oft flogen Helikopter ganz in der Nähe im Tiefflug. Ein Cateringunternehmen servierte das Essen auf der Basis eines Monatsplans, das Essen aber war frisch und variierte täglich. Dort entdeckte ich meinen Geschmackssinn für Käse und Aufschnitt wieder, für Brot, Marmelade und eine Tasse heißen Tee, der täglich zu zwei Mahlzeiten serviert wurde. Das Abendessen dauerte von 18 Uhr bis 20 Uhr 30, so wie es in Deutschland Brauch ist. Gegen 23 Uhr wurden alle wieder hungrig und das Festmahl mit Chips und Kettenrauchen begann. Alle, die ein paar Worte Deutsch zusammenkratzen konnten, baten das Sicherheitspersonal, die kleine Teeküche für ein paar Rühreier oder Pommes zu öffnen. Mir halfen Zigaretten und der gelegentliche Vorrat an selbstgebackenen Keksen, die ein Freund mir nach jedem Berlinbesuch mitbrachte. Servietten, Zigarettenhülsen, Marmelade, Schokoladenpäckchen und selbstgemachte Kekse füllten mein oberstes Schrankfach. Sechs Monate vergingen.

Es gab auch Lager, in denen erwartet wurde, dass wir kochten: die über Gebühr aufgeblasene Traglufthalle am kleinen Flugplatz Schönhagen bei Trebbin; das noch kleinere, dreietagige Containerlager von Hennickendorf in der Gemeinde Nuthe-Urstromtal und die Wohnung, die jeglicher Arbeitsfläche oder Regale entbehrte – alle im tiefsten Brandenburg. Man nahm uns das schimmlige Essen und ersetzte es durch Geld, obwohl die Einrichtungen uns keinerlei geeignete Einrichtung zum Kochen zur Verfügung stellten. Verbranntes, bernsteinfarbenes Öl – fremdes diesmal – und etliche Schichten Ruß zierten die Wände. Aus jedem Rohr tropfte Wasser auf das Laminat – und blieb dort.

In der neu eröffneten Halle in Trebbin, die auf längere Nutzung ausgerichtet war, bekam ich meine erste vollständige Auszahlung der Sozialhilfe, gemeinsam mit den etwa hundert anderen, die mit mir dorthin umgezogen waren. Während der nächsten Tage fuhren Sozialarbeiter mit jeweils sechs von uns vom Flughafen in die Stadt, um bei Lidl Lebensmittel einzukaufen. Alle frittierten ihre Pommes und kochten ihren Reis, ich aber bereitete mir Sandwiches und meine Tasse Tee zu. Ich wurde wieder verlegt, wohnte diesmal direkt außerhalb von Hennickendorf, das nur aus wenigen Häusern besteht. Ich begann zu essen wie ein kleines Kind, dessen Eltern für ein paar Stunden aus dem Haus gegangen sind.

Ich besaß eine Schüssel. Außerdem standen mir ein Wasserkocher und ein kleiner Kühlschrank in meinem Zimmer zu. Ich verzehrte deshalb Unmengen von preisreduzierten Cornflakes, Choco Chips und Instantnudeln, Gouda und alle Sorten Wurst. Ich trank unglaubliche Mengen Milch und heiße Schokolade. Alle zwei Tage ging ich zum nahe gelegenen Thomas Philipps. Ich ging zwei Kilometer lang an einer Weide voller Pferde und Kühe vorbei, blieb immer auf dem von Minen beräumten Pfad. Im angrenzenden Wald sah ich oft Angehörige der Armee in Bombenschutzkleidung, unterwegs mit Metalldetektoren. Ich schleppte kiloweise dieselben Dinge, grüßte immer die Pferde. Dieser Gewohnheit blieb ich treu, als ich eine Wohnung in Luckenwalde bekam. Auch sie lag am Stadtrand, gegenüber einem Ziegenhof. Diesmal hatte ich keinen Kühlschrank, keine Spüle, keine Arbeitsplatte oder Schüssel. Der Aldi der Stadt war ein paar Kilometer entfernt. Dort sah man mich oft. Brot, Gouda, Salami und eine Tasse heißer Tee sind weiterhin die Lebensgrundlage meiner Einsamkeit, jener Momente, in denen es mir unmöglich ist, nach etwas zu gelüsten, und ich unfähig bin, etwas zu genießen. Das Essen des Nirgendwo sozusagen.

Fünf Jahre nach der Armut meines Aufwachsens, vier Jahre entfernt von der Notdürftigkeit der Asylunterkunft und in der Kargheit meines Studentenlebens verändere ich mich langsam. Ich misstraue altem Käse und dem Ansatz von Schimmel. Ich kann einem halb durchgegarten Steak oder Burger vertrauen. Ich weigere mich, auch nur ein weiteres Verzweiflungsfalafel auszuhalten. Ich frittiere nur selten.

Aber ich kann endlich das Nirgendwo verlassen. Ich kann essen, um mir eine Freude zu machen, und kochen, um die, die ich liebe, zu verwöhnen.

Meine Seele aber hungert noch immer.

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