Eine Sprachnachricht an Lou Ottens
Ich war noch ein kleines Kind, als ich deine Erfindung kennenlernte, Lou, und zum ersten Mal in meinem Leben eine Kassette hörte. Meine Mutter sagte damals: „Das ist die Stimme deines Vaters, er schickt dir einen Extragruß.“ Mein Vater arbeitete Ende der 1970er Jahre in Saudi-Arabien. Er schickte uns seine Nachricht als Tonaufnahme, denn meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben.
Zur selben Zeit nahm Ayatollah Khomeini seine Predigten auf Kassetten auf und schickte sie an seine Anhänger in Ghom und Teheran. Er forderte sie auf, die Regierungsbehörden und die Armee zu boykottieren und eine Revolution anzuzetteln, die den Palast des Schahs von Iran erreichen sollte, während mein Vater uns in seinen Aufnahmen ermahnte, in allem unserer Mutter zu gehorchen.
Er konnte uns nicht in aller Ausführlichkeit davon berichten, wie es ihm weit weg von uns in seinem neuen Leben erging. So nahm er sich vor, sich seine Geschichten zu merken und sie uns nach seiner Rückkehr alle auf einmal zu erzählen. Es war, als wären die Leute, die zu jener Zeit ins Ausland gingen, entführt worden. Wir hörten so gut wie gar nichts von ihnen. In unserem Viertel gab es keine Telefone und man konnte nicht darauf vertrauen, dass Briefe in Häusern ohne Adresse ankommen würden.
Oft übergab der Postbote den Brief eines Abwesenden ihm selbst, weil er zurückgekommen war, bevor der Brief ankam.
Für mich als kleines Kind war mein Vater nur eine Stimme, bevor er für immer zu uns nach Salamiyya zurückkehrte. Wir versammelten uns damals alle um den Sanyo-Rekorder und mein ältester Bruder legte die Kassette ein und drückte auf die Abspieltaste. Die Stimme war würdevoll und klar, als er uns alle, einen nach dem anderen, in der Reihenfolge unseres Alters beim Namen nannte. Jedes Mal, wenn Vater einen von uns erwähnte, brach der Genannte in Tränen aus.
Ich war damals der Kleinste in der Familie. Ich sah, wie sich meine Brüder der Reihe nach auf den Boden fallen ließen, und wenn ich dran war, tat ich es ihnen gleich, ohne den Grund dafür zu kennen. Es war wie eine Feier aus Anlass einer Massenhinrichtung. Diese gelbe Kassette wurde fast zu einem Folterinstrument. Immer, wenn wir sie anhörten, hinterließ sie ein zeitweiliges Massaker, dessen Opfer dann wenige Minuten später ins Leben zurückkehrten.
Einmal jedoch drehte sich die Gleichung um und mein Vater wurde Opfer dieser Kassette. Im ersten Moment schien es, als seien seine unverständlichen Worte in eine Teigknetmaschine gefallen. Dann entdeckten wir, dass der Rekorder dabei war, das Tonband zu zerkauen. Unser übliches Familienmassaker hatte noch gar nicht begonnen. Wir beeilten uns, seine Stimme, seine Ratschläge und unsere Namen zu retten. Mein Bruder Mohammad hielt das Gerät an und nahm die Kassette heraus, aber so ein Ereignis konnte nicht ohne Schaden an uns vorübergehen. Das Band war zerrissen und ein kleiner Teil davon war irreparabel.
Normalerweise, wenn der Rekorder begann, Bandsalat zu produzieren, vermischten sich die Klänge der Musikinstrumente miteinander und der Sänger begann zu stottern, als wäre er kurz vorm Ertrinken. Dann versuchten wir, ihn so schnell es nur ging zu retten. Doch dieses Mal war weder ein Sänger noch ein Musiker betroffen. Es gelang uns zwar, die Stimme unseres Vaters zu retten, aber wir hatten verschiedene Vermutungen darüber, an welcher Stelle das Band zu Schaden gekommen war. Welcher Name würde durch die Reparatur verschwinden, und würde es nur einer sein oder mehrere? Das Zerreißen des Bandes hatte sich in einen Fluch verwandelt und wir wussten nicht, wer der Sündenbock sein würde.
Weißt du, Lou, ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter sich je die Fingernägel lackiert hätte. Deshalb hatte sie keinen Anlass, sich über uns zu ärgern, weil sie die Nagellackfläschchen zwischen ihren Sachen hätte suchen müssen. Umso mehr aber unsere Schwester! Wie kamen die Leute nur auf die Idee, deine zerrissenen Kassettenbänder mit Nagellack zusammenzukleben? Hast du das auch so gemacht? Oder hast du einen speziellen Kleber verwendet?
Man gab einfach einen Tropfen roten Nagellack auf die Verletzung, die ein Lied auf der Kassette erlitten hatte. Doch damit konnte man die Narbe nicht verbergen, die Rhythmus und Takt davongetragen hatten.
Wir haben viele Kassetten repariert, lieber Lou. Aber keiner von uns traute sich an die Reparatur des Bands in jener gelben Kassette heran. Mein Bruder Ali verschob es immer wieder, das Band in Ordnung zu bringen. Mit der Zeit interessierte ich mich mehr für andere Kassetten. Kassetten mit Liedern über wahre Liebe, Klagen über Trennungsschmerz und Zorn über Verrat.
In meiner kleinen Stadt in Syrien hatten Fenster nicht nur die Aufgabe, Licht und Luft ins Zimmer zu lassen. Wir gaben ihnen noch eine weitere, indem wir einen Kassettenrekorder mit einer deiner Kassetten aufs Fensterbrett stellten. Aus den auf die Straße gerichteten Lautsprechern erklangen die Stimmen der Sänger und Sängerinnen mit all ihren Liedern. Die Straßen in unserem armen Viertel wollten uns damals wohl die Illusion vermitteln, ein jedes ihrer Häuser sei ein Theater voll mit Publikum. Deshalb lieben wir bis heute die Lieder, die wir in der Ferne aus den Fenstern anderer Leute hören, und die anderen lieben noch immer die Lieder aus unseren Fenstern.
Meine Mutter jedoch hörte am liebsten die gelbe Kassette aus Saudi-Arabien.
Wenn du sie damals gefragt hättest, ob sie wisse, wer die Kassette erfunden habe, hätte sie ohne zu zögern geantwortet: „Abu Ayman asch-Scha’aar“ oder „Ahmad Darwisch“. Die beiden hatten kleine Läden in unserer Stadt, in denen sie deine Kassetten verkauften, und wir liefen dorthin, wenn wir Nachschub an Musikhormonen brauchten.
In unserer Jugend, als wir aufhörten, mit angehaltenem Atem Vögeln aufzulauern, um sie zu fangen, wurden deine Kassetten zu romantischen Fallen, mit denen wir die Mädchen fingen. Die Nachrichten an unsere Liebsten versteckten sich in den Titeln der Lieder und Kassetten: „Ich hab‘ genug“, das war der Titel eines Albums eines irakischen Sänger namens Salah Abdel Ghafour, das man seiner Liebsten schickte, wenn man genug von ihrer Zurückhaltung hatte. „Du hast einen anderen“ vom bekannten Sänger Kadim Al Saher spricht für sich selbst. „Schwarze Augen“ schickte man an ein Mädchen mit wirklich schönen Augen. „An Nadschwa“ erhielt ein Mädchen mit diesem Namen. „Die Nacht und ein vergessenes Zimmer“, „Ich hab‘ dich verlassen, vielleicht kann ich deine Liebe vergessen“, „Ohne dich ist sie so allein“, „Was soll ich dir geben? Antworte mir … meine Sorgen, meinen Atheismus, meinen Überdruss?“ – ein jedes Lied fand seine Bestimmung. Wundere dich nicht, Lou, zu jener Zeit haben die Leute deine Kassetten nicht kaputtgemacht, wenn auf ihnen das Wort „Atheismus“ vorkam. Heute allerdings lässt der Sänger so ein Wort von sich aus weg.
Khomeini, der Anführer der „Kassettenrevolution“, ist tot und hat ein radikales Herrschaftssystem und eine Republik hinterlassen, die den Iranern und den benachbarten Völkern Erdöl und Krisen verschafft haben.
Mein ältester Bruder starb und wir sagten, dass der kaputte Teil des Kassettenbandes vielleicht gerade ihm gewidmet gewesen war.
Dann starb mein mittlerer Bruder und wir sagten, es sei unmöglich, dass der Schaden auch noch ihn erfasst hatte.
Mein Land brachte meine Frau, meine beiden Kinder und mich dazu, es zu verlassen. Die Nagellackflaschen meiner Schwester ließen wir weit hinter uns zurück.
Kassetten fanden ihren Platz in der Erinnerung und hatten trotz einiger Versuche keine Zukunft mehr.
Und nun bist du von uns gegangen, mein lieber Lou.
Weil meine Mutter weder lesen noch schreiben kann, schickte sie mir gestern eine Sprachnachricht auf WhatsApp: „Frag mal deinen Bruder Ali, wann er mir diese gelbe Kassette reparieren wird. Ich habe Sehnsucht nach der Stimme deines verstorbenen Vaters.“
Lodewijk Frederik „Lou“ Ottens (* 21. Juni 1926; † 6. März 2021) war ein niederländischer Ingenieur und Erfinder und maßgeblich an der Entwicklung der Kompaktkassette beteiligt.