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Erste Flucht

Abdullah Alqaseer
Yaser Safi, ohne Titel, Acryl auf Leinwand, 180x180 cm (2008)

Fünf Meter, nicht mehr. In nur zwei Sekunden legte ich sie zurück auf meiner ersten Flucht, als es Bomben hagelte rund um Damaskus. Fünf Meter. Vom schwarzen Sessel im Wohnzimmer zum Bad, in die Ecke neben dem elfenbeinfarbenen Klo. Dorthin quetschte ich mich, auf dem Arm meinen Sohn, der wie am Spieß brüllte. Die Tränenflut war in diesem Raum nicht Neues, sie brach aus, sobald er Wasser und Seife ins Gesicht bekam.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Flucht beginnt in den eigenen vier Wänden und nistet sich dort für immer ein.

Flucht heißt sich verstecken. Etwa unter dem Ehebett oder in dem berühmt-berüchtigten Kleiderschrank, in den sich der Liebhaber verzieht, wenn der Gatte überraschend heimkehrt. Oder hinter einer offenen Tür oder unter dem Esstisch, wie Kinder es beim Versteckspiel tun. Im Krieg dagegen flüchten Väter und Mütter mit ihren Kindern zuerst ins Bad.

Je enger der Raum, desto größer die Geborgenheit. Je dichter die Decke und die Wände, desto höher die Überlebenschance, so jedenfalls will man glauben.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Was willst du werden, wenn du groß bist?

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Das Verschwinden, würde das Versteck antworten.

In die abendliche Angst mischte sich ein leises Klopfen an der Wohnungstür.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎„Mama ist da“, rief mein Sohn.

Sie nimmt eigentlich immer ihre Schlüssel mit. Wieder war hier drinnen das sachte Klopfen zu hören, das im Widerspruch zu dem Dröhnen des Todes draußen stand. Das zaghafte, höfliche Klopfen war deutlich hörbar, schien aber unberührt von dem Geschehen zu sein. Wie ein Lied aus dem Radio eines Autos, das vom Weg abkommt und beim Sturz ins Tal an den Felsen zerschellt, ohne dass die Stimme des Sängers und die Geigen und das ganze Orchester verzerrt klingen.

Ich zögerte einen Moment, rannte dann zur Tür und öffnete sie. Da stand eine riesige, überfüllte, stinkende Mülltonne.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Wie das? Wer hat Sie all die Stufen hochgewuchtet?

Die Tonne, eben noch so zurückhaltend, überrumpelte mich jetzt. Geradewegs rollte sie ins Wohnzimmer. In ihr steckte ein Obdachloser, der fluchend nach Essen wühlte. Ich versuchte erfolglos, die beiden vor die Tür zu setzen. Also schob ich sie in die Küche. Der Obdachlose wollte um nichts in der Welt aus der Tonne steigen. Also ging ich ohne ihn zurück ins Bad zu meinem Sohn, der unablässig nach mir rief. Was wird meine Frau wohl sagen, wenn sie heimkommt, dachte ich.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Angst macht die Stimme zur Hand.

Wieder ein leises Klopfen. Ich öffnete die Tür. Vor mir eine lange menschenleere Straße. Wortlos trat sie über die Schwelle. Ich ließ es geschehen, achtete darauf, dass die Bürgersteige nicht meinen Lieblingssessel rammten, parkende Autos nicht auf die Zimmerpflanzen meiner Frau fielen und Schilder von Büros und Geschäften nicht auf den kleinen Glastisch.

Menschen folgten, gereiht in einer Schlange. Ich weiß nicht, ob die Tür offen gestanden hatte oder von ihnen aufgebrochen worden war. Wie dem auch sei. Jedenfalls nahmen sie die Wohnung ein und verteilten sich überall – im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, in der Küche. Die Älteren ließen sich auf ihrem Koffer nieder, die Kleinen legten sich in den Schoß ihrer Mutter. Es dauerte nicht lange, da brauten sich Wolken zusammen, drangen in die Wohnung ein, verhängten die Decke und schossen ihre Munition an Regen, Schnee und Hagel ab. In Windeseile schlugen die Menschen Zelte auf, kreuz und quer.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Manchmal halten sich Wolken für Kampfjets.

Kurze Zeit später standen Bäume vor der Tür. Sie bückten sich und traten ein. Einer nach dem anderen. Sie kamen nicht allein, brachten vielmehr Massen an Vögeln mit. Ohrenbetäubendes Kreischen. Jeder Vogel trug im Schnabel die Eilmeldung einer Katastrophe.

Ein paar Kinder banden Seile an den Ast eines riesigen Baumes neben dem Fernseher. Mein Sohn rannte hin. Auch er wollte schaukeln. Hinter uns die Welt, die uns mit Wucht anstieß.

Ein Kampfjet flog durch die Tür herein und durch das Fenster wieder hinaus, hinterließ zerbrochene Scheiben. Weitere Jets folgten, warfen Fassbomben und Raketen auf meine Regale ab. Bücher verbrannten auf der Stelle, Protagonisten, Autoren und Übersetzer starben. Wer überlebte, floh aus Seite, Wort, Zeichen. Die einen suchten Unterschlupf im Flüchtlingslager, die anderen im Fernseher, wo sie per Liveübertragung ihrer Verwunderung über die Ereignisse Ausdruck verliehen, denn sie hatten geglaubt, dass ihre Geschichten abgeschlossen waren und keinen Raum für weitere Dystopien boten.

Ich war in Gedanken noch bei den Protagonisten und ihrem Schicksal, als ein reißender Fluss ins Wohnzimmer strömte und allerlei anschwemmte: Autos, Schlamm, Schmutz, Leichen mit Kopfschuss. Hastig schloss ich die Badezimmertür, rannte zu meinem Sohn und stieg mit ihm auf die Sessellehne. Auch die Flüchtlinge kletterten auf einen erhöhten Platz. Der Fluss verzweigte sich, ein Arm floss in die Küche, der andere ins Schlafzimmer.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎Warum hast du den Fluss hereingelassen?

Was soll ich meiner Frau sagen? Hmmmm. Flüsse klingeln nicht? Durch den Spion war der Fluss am Boden nicht zu sehen? Nein, nein, ich sage: Die angeschwemmten Leichen haben die Tür mit Kopf und Füßen aufgestoßen. Weiße Lügen sind in diesem Fall zulässig. Es ist nicht verwerflich, die Leichen mit Schuld zu belasten. Denn sie haben nicht mehr an ihrer Seele zu schleppen.

Der Fluss verschwand, er wurde verschluckt von einem tosenden Meer, das ihn einholte. Die Zelte verwandelten sich in Gummiboote. Ich stieg mit meinem Sohn in eines davon, wir trieben es an, mit Bitten, Gebeten und Flüchen.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎„Warum warten wir nicht auf Mama?“, rief mein Sohn.

‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎ ‎„Mama wartet auf uns, mein Junge. Mütter sind verankert, wir dagegen schwirren umher.“

Das Meer brauste in meine Wohnung, es folgten ganze Städte samt Bewohnern, Bergdörfer, einsame Wälder, Berge, Täler, Soldaten, Milizen, Banden, Wegelagerer, Opfer, Entführte, Vermisste, Frauen, Kinder.

In Revolutionen und Kriegen dringt die Welt in deine Wohnung und mischt sich in alles ein:

Der Sessel ist verblichen, du brauchst einen neuen.

Das Bild an der Wand hängt schief.

Eine Spinne ist bereits dabei, ihr neues Heim oben in der Zimmerecke zu weben.

Der kurze Weg vom Wohnzimmer ins Bad führt im Krieg über mehrere Kontinente. Und dann entdeckst du, dass deine erste Flucht fortdauert. Für immer.

– Eine Sprachnachricht an Lou OttensLesenتسجيل صوتي إلى (لُو أوتنس)
– Die Türen sind GefangeneLesenالأبواب أسيرةً
– Eine Lüge namens DeutschlandLesenكذبة اسمها: ألمانيا

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