wuchsen auf, als man sich Liebesgrüße noch per Kassette schickte und lieben es bis heute, dem Leben Musik und den Dingen klangvolle Geschichten zu entlocken.

Christine Koschmieder über Abdullah Alqaseer

 

I     Sophie Marceau

Am Anfang war Musik, kein Bild. Oder besser, ein Songfetzen.

Wir alle waren so verliebt in Sophie Marceau
Sag nicht, es war nicht so
Und alle Mädchen standen auf Pierre Cosso …

Eines der ersten Dinge, die mir Abdullah Alqaseer per Mail über sich erzählt, ist, dass er früher in Sophie Marceau verliebt war und einen Maler gebeten hat, ein Foto, auf dem sie zusammen mit einem Regisseur abgebildet war, für ihn abzumalen und dabei das Gesicht des Regisseurs durch seines zu ersetzen. Ich war nie in Sophie Marceau verliebt, aber jetzt weiß ich, dass der Sänger von Prag nicht gelogen hat. Auch in Syrien waren die Jungs verliebt in Sophie Marceau.

 

II   Kassette

Mein Auto ist alt genug, um noch ein Kassettendeck zu haben. Ich bin alt genug, um noch eine Kassette zu haben. Die Kassette, die im Kassettendeck meines alten Renault steckt, ist von 1999. Auf dem Einleger sind handschriftlich die Bands und Titel verzeichnet, Manu Chao, Buena Vista Social Club, Gimme tha Power von Molotov, Pussy Lovers aus From Dusk Till Dawn. Es ist die letzte Kassette, die ich noch besitze, und aufgenommen hat sie der Mann, den ich später geheiratet habe, der später gestorben ist.

Was das mit dem syrischen Autor und Journalisten zu tun hat, der mich in seine Wohnung im achten Stock eines Plattenbauriegels in Halle-Neustadt eingeladen hat, in dem der Aufzug nicht in jedem Stockwerk hält? Dass er gerade über Lou Ottens schreibt, den Erfinder der Kassette, und dass er gefragt hat, ob ich nicht etwas dazu schreiben will, der Mann, von dem ich wenig mehr weiß, als dass er in seiner Jugend in Sophie Marceau verliebt war und dass er mit seiner Familie in einem Plattenbauriegel lebt, in dem er seine Einkäufe entweder ein Stockwerk nach oben oder eines nach unten tragen muss, weil der Aufzug nicht im achten Stock hält.

 

III  Musik

Die Tapete an der Wand hinter dem Esstisch imitiert eine gemauerte Wand. Vom Fenster am Kopfende des Esstischs aus kann man auf einen Flachbau runtergucken. In dem Flachbau ist die Musikschule, in der Abdullahs Kinder Klavierspielen lernen. Zwei von den acht Brüdern in Abdullahs Familie hatten eine sehr schöne Stimme. Abdullah ist derjenige von beiden, der noch lebt. Auf dem hohen Küchenschrank steht ein Vogelkäfig. Den Kanarienvogel hat ein Freund Abdullah als Leihgabe dagelassen. Einen Namen hat er nicht. Sobald Abdullahs Kinder am E-Piano spielen oder Abdullah die Oud anstimmt und die Familie für mich singt, singt auch der Vogel.

 

IV  Gebrauchte Alpträume

Abdullah hat einen Roman geschrieben, den er gerade von einem Freund ins Englische übersetzen lässt. Ich weiß nicht, wie gerecht die englische Übersetzung dem arabischen Original wird, aber ich mag die Bilder darin.

„Meine Trennung von ihr vollzog sich mühevoll und schleppend. So, wie sich Wassertropfen von einem Kleid lösen, das frischgewaschen unter einem Kumulushimmel an der Wäscheleine hängt. […] Sie ist die Gestalt, deren Schatten ich sein möchte, der Song, den ich zwar auf den Kopf gestellt auswendig gelernt habe, aber zu singen gescheitert bin.“

Später erscheint eine weitere Frau im Text, eine Frau, die, auch wenn sie nicht danach aussieht, über ihren ganzen Körper verteilt Tattoos trägt. Tattoos verlassener Städte; die Bewohnerinnen unterwegs, auf der Suche nach dem Heimweg.

Der Roman ist die Geschichte eines Mannes, der in der Vergangenheit von anderen lebt, sagt Abdullah.

 

V            Der jugoslawische Parka

Als wir mit dem Essen und dem Singen fertig sind, führt mich Abdullah in sein arabisches Zimmer, wie er es nennt. Ich sitze auf einer Matratze auf dem Boden und seine Kinder zeigen mir Bilder, die sie mit echten Pinseln auf das riesige interaktive Whiteboard gemalt haben. Abdullah erzählt, wie er versucht, Gegenständen ihre Geschichten zu entlocken. Die Geschichten, die sich in den Gegenständen eingenistet haben. Und dann holt er den Parka, den er aus einem Laden vom Roten Kreuz hat. Mladost. Made in Yugoslavia, steht auf dem Etikett im verfilzten grünen Webpelz, mit dem der Parka gefüttert ist. Mladost heißt Jugend und Yugoslavia, das Herkunftsland, gibt es nur noch eingenäht in Abdullahs Parka. Auch Abdullahs Parka erzählt von der Vergangenheit anderer Menschen, von denen einige nicht mehr singen, weswegen ein syrischer Autor ihre Geschichten aus dem Futter holt, in dem sie wohnen.