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Nur dreißig Kilometer entfernt – Brief 3

Sabina Brilo an Yirgalem Fisseha Mebrahtu, Vilnius, 06. November 2022

Übersetzung: Tina Wünschmann aus dem Russischen

Das bin ich und meine Katze Basia, die wir in Belarus zurückgelassen haben. Sie wartet auf uns, und wir vermissen sie.© Nelly Schasnaya

Grüß Dich, liebe Yirgalem!

Ich habe mich sehr über Deine Antwort gefreut. Beim Lesen konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Es gibt viel Gemeinsames in unseren Schicksalen, doch das Wichtigste ist, dass Dein wie mein Schicksal in so direkter und grausamer Abhängigkeit zu dem Ort und der Zeit stehen, in denen wir geboren wurden und leben; und zu den Menschen, die aus einem bösen Willen heraus die Macht in unseren Staaten erhielten und halten. Als ich las, dass Du Dir die Macht als einen Menschen mit einem doppelten Antlitz aus Gott und Teufel vorstellst, fand ich das eine gelungene Beschreibung. Alles hängt davon ab, wer Zugang zur Macht hat: die guten oder die schlechten Menschen. Aber so sollte es doch in unserer modernen Welt, die wir zivilisiert nennen, nicht sein. Es sollte vielmehr rechtliche und politische Instrumente geben – internationale, nationale –, die die Handlungen eines Tyrannen in einem Staat blockieren können, in dem er die Macht erlangt hat. Im Ausland sagt man oft: „Euer Volk hat diesen Anführer gewählt, also sollte es auch selbst mit ihm zurechtkommen.“ So sagen sie, weil sie unsere Situation nicht verstehen. Ein Tyrann wird nicht immer gewählt. Er kommt oft auf betrügerischem Weg an die Macht, indem er das Vertrauen der Menschen ausnutzt. Und dann ergreift er sie vollkommen, unterwirft sich die Gerichte, die Sicherheitskräfte – und kann ungestraft tun und lassen, was er will. Und das tut er viele Jahre lang. Und ganze Generationen leiden.

Du hast von den Menschen in Deinem Land, Eritrea, geschrieben, die schon 21 Jahre im Gefängnis sitzen und von denen Du nicht einmal weißt, ob sie noch leben. Das ist ein Albtraum. Im September fand der Gerichtsprozess meiner Freunde statt, die Journalisten sind und schon fast zwei Jahre lang im Gefängnis sitzen. Einer von ihnen, Andrej Alexandrow, ein fröhlicher Mensch und Dichter, wurde zu vierzehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt, seine Freundin Irina zu neun Jahren. Nach den Protesten in Belarus hatten Andrej und Irina Geld gesammelt und an Repressionsopfer verteilt – jeder gab, so viel er eben konnte, um Pakete ins Gefängnis zu schicken, für die Anwaltskosten und andere notwendige Ausgaben. Dafür, dass sie anderen Menschen geholfen hatten, wurden meine Freunde wegen Extremismus und Staatsverrat angeklagt. Meine Freundin Antonina Kowaljowa wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil sie vor zwei Jahren an einer friedlichen Kundgebung gegen Wahlfälschung teilgenommen hatte. Sie ist 63 Jahre alt – nicht gerade das passendste Alter, um im Gefängnis zu sitzen … Und stell Dir vor, ich habe geweint und gelacht, dass sie ein Jahr bekommen hat und nicht zwei oder drei, wie manch andere für dasselbe „Verbrechen“.

So haben wir hier einen Briefwechsel, der von Leid und Tragödien handelt – und dabei nicht einmal den eigenen persönlichen, sondern allgemeinen, menschlichen. Du hast die Geschichte Deines Landes beschrieben und ich dachte daran, dass genau im Jahr 1998 mein Sohn zur Welt kam. Sein ganzes Leben hat er unter einem Präsidenten, Lukaschenko, verbracht, und mit 22 Jahren war er dann gezwungen, seine Heimat zu verlassen, die er nun sehr vermisst. Da fällt mir ein, dass ich gern mehr über Deine Brüder erfahren würde, die unter Lebensgefahr die Sahara durchquert und das Mittelmeer überwunden haben. Wie geht es ihnen heute, wo leben sie? Ist es ihnen gelungen, sich einzuleben? Wer hat ihnen dabei geholfen? Es fällt mir sehr schwer, mir vorzustellen, dass Du Deine Verwandten in Eritrea nicht sehen kannst, weil es keine Internetverbindung gibt und Du auch nicht lange telefonieren kannst. Ich spreche fast jeden Tag mit meinen Angehörigen, oft auch per Video. Ich sehe dann ein vertrautes Zimmer, ein Sofa, ein Bild an der Wand. Ich kann meine Katze sehen. Manchmal tut das weh – ich möchte sie so gerne streicheln, aber es geht nicht. (Du schreibst, dass es in Eritrea keine Haustiere als Freunde, sondern nur für bestimmte Zwecke gebe. Weißt Du, in Belarus gibt es diese Tradition auch auf dem Dorf, wo der Hund das Haus hütet und die Katze die Mäuse fängt. Aber in Belarus lebt die Mehrheit der Bevölkerung – fast drei Viertel – in den Städten.)

Jetzt werde ich Deine Fragen beantworten: Beim wievielten Mal ist es mir gelungen, Deinen Vornamen auszusprechen? – Vielleicht beim zweiten Mal 😊. Er ist nicht sehr schwierig und sehr schön, wie auch der Name Deines Landes und die Bezeichnung Deiner Sprache – Tigrinya. Für mein Ohr klingen all diese Wörter wie aus einem Wundermärchen (ich musste an Astrid Lindgren und ihre „Brüder Löwenherz“ denken). Mein Name ist nicht sehr verbreitet bei uns. Meine Großmutter väterlicherseits hieß Sabina, sie war Polin. Im Altaramäischen bedeutet Sabina „die Weise, die Anspruchslose“ (das sind wahrscheinlich auch Eure Sabas) und im Türkischen „stark, ausdauernd“. So steht es im Internet, aber wie es wirklich ist, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich tatsächlich so. Nur eben klein und dünn 😊.

Du schreibst, dass im Moment wohl niemand wolle, dass Du in Deine Heimat zurückkehrst. Bei uns ist die Situation dieselbe, weißt Du. Alle Angehörigen vermissen uns zwar, freuen sich aber, dass wir in Sicherheit sind. Denn in Belarus wird bis heute täglich jemand festgenommen. Die Macht kann das „Verbrechen“ nicht vergessen, das die Menschen im August 2020 begangen haben – auf die Straße zu gehen und gegen gefälschte Wahlen zu protestieren. Noch damals teilte Lukaschenko mit, „wir werden jeden finden und bestrafen“ – und nun finden und bestrafen sie schon seit zwei Jahren. Schließlich sind auch hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen!

Du hast mich auch gefragt, wie das Verhältnis zu Russland ist und wie es mein Land beeinflusst. Es ist so, dass mein Land – die Republik Belarus – die Unabhängigkeit nicht erkämpfen musste wie Eritrea. Wir waren siebzig Jahre lang Teil der Sowjetunion, und als sie 1991 zerfiel, erhielten wir unseren souveränen Staat, wenn man so will, auf friedlichem Weg. Doch 1994 kam Lukaschenko an die Macht. Er hat, wie auch Putin, ein Teufelsgesicht. Beide sind Verkörperungen des Bösen. Seitdem sind die Unabhängigkeit und die Souveränität von Belarus genauso in Gefahr wie die Menschen. Putin träumte von Beginn an davon, unter seiner Herrschaft die Sowjetunion wieder zu errichten, und er brauchte Lukaschenko, der unser Land unter dem Deckmantel der Souveränität in ein Aufmarschgelände für Putins Armee verwandelte. Sein Hauptnarrativ lautete dabei: „Der Westen hat kein Recht, sich in unsere Belange einzumischen, und jeder, der das anders sieht – ist ein ausländischer Agent und Extremist.“ Lukaschenko war immer abhängig von Russland und ohne die russische Unterstützung hätte er, womöglich auch aus Angst, nicht umsetzen können, was er mit seinem Volk anrichtet. Heute wird Belarus als Handlanger der putinschen Aggression bezeichnet, ich aber finde, dass Belarus eine Geisel ist. Und zwar keine schweigende, sondern, trotz allem, eine widerständige.

Liebe Yirgalem! Du schreibst, dass Du Dein Herz in Deiner Heimat zurückgelassen hast. Genau dasselbe sage auch ich. Nur bist Du weit von Deinem Land entfernt, ich aber – stell Dir vor! – lebe nur dreißig Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Dennoch ist die Leere an der Stelle des Herzens wohl dieselbe wie bei Dir …

Ich hoffe, sehr, dass wir uns einmal treffen, uns unterhalten (auch wenn mein Englisch nicht sehr gut ist, bin ich doch sicher, dass wir einander verstehen werden!) und Kaffee trinken. Und Du bringst mir bei, wie man die stacheligen Früchte des Feigenkaktus isst.

Ich umarme Dich fest, warte auf Deine Antwort und denke schon an unser Treffen.

Sabina

* Dieser Brief erschien zuerst in der Kolumne 10 nach 8 Bei ZEIT Online.

 

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