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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Sabina Brilo & Yirgalem Fisseha Mebrahtu > Selbst kleine Widerstände, seien sie noch so friedlich, fordern einen hohen Preis – Brief 4

Selbst kleine Widerstände, seien sie noch so friedlich, fordern einen hohen Preis – Brief 4

Yirgalem Fisseha Mebrahtu an Sabina Brilo, München, 03. Dezember 2022

Bild der Münchner U-Bahn © Maritta Iseler
„Die Rolltreppen, die Du bestimmt auch mit geschlossenen Augen oder beiläufig betrittst, während Du auf Dein Handy guckst, betrat ich hier zum ersten Mal“, Yirgalem Mebrahtu, Münchner U-Bahn © Maritta Iseler

 

Liebe, verehrte Sabina,

wie geht es Dir und Deinem Mann Andrei? Ich hätte niemals erwartet, dass wir uns so schnell persönlich treffen würden – sogar, bevor ich Deinen letzten Brief erhielt, in dem Du vom Wunsch nach einem baldigen Treffen geschrieben hattest. Unsere Begegnung in Berlin und die Zeit, die wir miteinander verbrachten, haben mir große Freude bereitet.

Wie Du mir schon gesagt hast, habt Ihr nach unserem Treffen noch ein paar weitere Tage in Berlin verbracht, bevor Ihr nach Vilnius zurückgekehrt seid. Wie war Eure Rückreise? Ich glaube, Ihr habt noch eine andere Konferenz besucht. Immer wieder erneut über dieselben Themen zu reden, über Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Verbrecher, die sie begehen, ist schmerzhaft. Was auch schmerzt, ist, dass es so schwer ist, die Verbrechen oder die Verbrecher loszuwerden. Lass mich wissen, ob das Thema dieser Konferenz doch ein anderes war oder eben genau das, was ich vermute.

Zufälligerweise ist heute der Jahrestag meiner Ankunft in Europa. Vor genau vier Jahren habe ich in München, wo ich jetzt wohne, erstmals den Fuß auf europäischen Boden gesetzt. Der Abend dieses Tages war von einer Realität, die mir wie ein Traum erschien. So wie … als würden wir im Erwachsenenalter zur Welt kommen. Stell Dir vor, wir würden nicht nach neun Monaten als Säuglinge, sondern als Volljährige zur Welt kommen. Stell Dir vor, wir könnten über die Wunder der Menschen, die vor uns geboren wurden, nur staunen und nichts Eigenes beitragen. So fühlte es sich damals für mich an. Alles war für mich neu und alles verwunderte mich. Vor allem aber gab es diese Sicherheit. Der Jagd entkommen und der Gefangenschaft entronnen … Da Du dieses Gefühl plötzlicher Sicherheit auch erfahren hast, muss ich es Dir nicht beschreiben. Doch es war nicht das Einzige, was ich empfand, als ich hier ankam. Ich hatte viele verschiedene Gefühle.

Ich war bereits zuvor mit einem Flugzeug geflogen. Aber die Zugfahrt vom Flughafen zur Münchener Innenstadt war meine erste. Die Rolltreppen, die Du bestimmt auch mit geschlossenen Augen oder beiläufig betrittst, während Du auf Dein Handy guckst, betrat ich hier zum ersten Mal. All das musste ich wie ein Kind erlernen.

In den letzten vier Jahren bereiste ich viele Teile der Welt. Nur in Australien, Antarktika und Südamerika war ich noch nicht. Kannst Du Dir vorstellen, wie großartig das für die Eritreerin ist, die bei der Regierung einen Passierschein beantragen musste, um ihre 110 Kilometer entfernt lebende Familie zu besuchen?!

Ich möchte nicht weiterschreiben, ohne Dich zuerst wissen zu lassen, dass die Geschichte Deiner Freundin Antonina, Deines Freundes Andreis und seiner Partnerin Irina, die zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, mich sehr berührt hat. Mir ist aufgefallen, wie gleich die Strategien aller Diktatoren sind. Sie stigmatisieren alle Taten der Bürger und Bürgerinnen, die doch aus reinem Herzen und gutem Willen kommen. Dann nennen sie ihre Landsleute Extremisten und Landesverräter.

Du schriebst von Staatsangehörigen anderer Länder, die das, was uns in unseren Ländern angetan wird, nicht durchmachen müssen; die meinen, dass wir unsere Probleme selber lösen müssten, weil unsere Völker diese Diktatoren gewählt hätten. Deine Antwort für sie war, dass Diktatoren nicht einfach gewählt werden, sondern durch List an die Macht gelangen. Das ist ein Fakt! Im Tigrinya sagt ein Sprichwort: „Wer nicht in der Schlacht war, meint es besser zu wissen.“ Es gibt Menschen, die einen belehren wollen, nachdem sie die Konsequenzen der Entscheidungen gesehen haben, die man getroffen hat, um ein Problem zu lösen. Sie belehren anstatt zu berücksichtigen, was einen dazu veranlasst haben könnte, so und nicht anders zu handeln. Sie wissen immer besser, was man hätte machen oder nicht machen sollen. Diese Menschen sind sich gar nicht bewusst, dass sie die „richtige“ Entscheidung nur aufgrund einer vorausgegangenen „Fehlentscheidung“ erkennen konnten.

Es gibt auch Leute, die die Situation in unseren Ländern nur aus der Situation ihrer Länder heraus beurteilen. Aus ihrer privilegierten Position, wo die Einhaltung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit normal sind. Es gibt Menschen, die zum Fall Eritrea sagen: „In Tunesien, Ägypten, Libyen, Sudan, Äthiopien wurden Regierungen doch auch gestürzt … Diese Völker haben durch Aufstände Veränderungen gebracht. Warum flieht ihr Eritreer, anstatt euch dem Problem zu stellen?“ Es gibt sogar Eritreer, die so reden. Ich denke, sie sagen diese Dinge nur, weil sie den Teufel, der in Eritrea regiert, nicht richtig kennen. In Eritrea herrscht eine Atmosphäre, die es einem unmöglich macht, den eigenen Nachbarn, Freunden, manchmal sogar sich selbst zu trauen. Leute, von denen du denkst, sie haben dieselben Probleme wie du, entpuppen sich als Spione. Und das, obwohl sie genau dasselbe durchmachen wie du.

2017 (wenige Monate bevor ich aus meinem Land geflohen bin) kam es zur Verhaftung von Hunderten von Menschen. Grund dafür war, dass Lehrer sowie Eltern sich über das Einmischen der Regierung in Angelegenheiten einer Schule in Asmara beschwert hatten. Auch der Direktor der Schule, Haj Musa Mohammed, wurde verhaftet. Er war ein 93 Jahre alter Mann, der nach sechs Monaten, noch in der Haft, verstarb. Weißt Du, was folgte? Die Regierung stufte die Teilnahme an seiner Beerdigung als einen neuen Haftgrund ein. Etwa 800 Menschen wurden nach der Beisetzung festgenommen. Viele von ihnen waren Jugendliche, teilweise sogar Minderjährige. Was ich damit sagen will ist, dass selbst kleine Widerstände, seien sie noch so friedlich, einen großen Preis fordern – und das weiß nur der, der das durchmacht.

Aber lass mich zu Deiner Aussage „Diktatoren werden nicht gewählt, sondern gelangen durch List an die Macht“ zurückkommen. Manche Menschen sagen, dass unser Diktator uns nicht listig getäuscht, sondern in seinen Bann gezogen hat. Sie meinen, er würde klar zeigen, wer er wirklich ist und was er vorhat. Ich erinnere mich an einige Begebenheiten, die mich dem zustimmen lassen. Dennoch ist es eine Tatsache, dass er versucht, seine Zeit an der Macht zu verlängern, indem er die Leute, die ihn durchschaut haben, erbarmungslos aus dem Weg räumt. Eine weitere Sache, die Diktatoren gut gelingt, besteht darin, in einigen Bürgern und Bürgerinnen Stolz zu säen, der auf Nichtigkeiten basiert. Diese Leute wollen nicht, dass die Welt mitbekommt, was im Inland passiert. Um die Wahrheit nicht ans Licht gelangen zu lassen, halten sie ohne jede Scham lange Reden über all das, was war, und ignorieren all das, was jetzt nun mal nicht mehr ist.

Mir fällt Dein Gedanke ein, dass Lukaschenko ohne die russische Unterstützung womöglich aus Angst nicht hätte umsetzen können, was er gegen sein Volk anrichtet. Ich denke nicht, dass es so ist. Ich denke, dass Politiker wie Lukaschenko einfach gnadenlos auf ihren Bürgern und Bürgerinnen herumtrampeln. Ein weiterer Politiker dieser Art ist der Präsident meines Landes. In dem gewaltsamen Kampf für die Unabhängigkeit Eritreas gehörte er zu den jungen Menschen, die in den 1960er Jahren die Schule verließen, um sich den Truppen anzuschließen. Aber ich glaube, dass er nach der Unabhängigkeit Eritreas immer größer und Eritrea immer kleiner wurde. Indem er an denen, die – offenbar aus Reue – wieder auf den rechten Weg zurückkehren wollten, immer wieder Exempel statuierte, ließ er uns, das Volk, fast genau so viel zahlen, wie wir bereits zahlen mussten, um überhaupt unsere Unabhängigkeit zu erlangen. Und auch jetzt befinden wir uns noch in einem Krieg! Was glaubst Du, warum unser Präsident auf der Seite Russlands ist? Um Aufmerksamkeit von westlichen Ländern wie Amerika zu erlangen. Angesichts der Ziele, die wir in unserem Unabhängigkeitskrieg verfolgten, hätten wir eines der ersten Länder seien müssen, die sich von Russland distanzieren. Die positive Einstellung, die die eritreische Regierung gegenüber Russland hat, entspricht meines Erachtens nicht den Wünschen und der Geschichte des eritreischen Volkes.

Wie dem auch sei, lass uns über etwas anderes reden …

Es gibt ein Gedicht von Stella Nyanzi, das „Exile“ heißt. Das Gedicht handelt von dem furchtbaren Leben, das sie unter dem Regime eines Diktators führen musste. Sie sagt darin: „In Uganda bin ich Uganderin. In Afrika bin ich Afrikanerin. In der Welt bin ich die Tochter dieser Welt. Ich bin also kein Flüchtling. Nennt mich nicht Flüchtling, nennt mich bei meinem Namen!“ Ich hab mir versucht vorzustellen, wie es für Dich ist, nur dreißig Kilometer von Deinem Land entfernt zu sein. Ich wollte den Schmerz dieser Realität ermessen. Also stellte ich mir einen enormen Hunger vor und fragte mich, was wohl schwieriger sei: Während man hungrig ist, an einem Ort zu sein, an dem es weit und breit kein Essen gibt, oder an einem Ort zu sein, an dem man das Essen sehen, aber nicht greifen kann? In beiden Situationen leidet man am Hunger, jedoch scheint es eine doppelte Strafe zu sein, das Essen zu sehen, aber nicht greifen zu können. Dieser Gedanke kam mir.

Der August des Jahres 2006 war einer der schwierigsten Monate im Leben meiner Familie. Vielleicht war er der Beginn der folgenden qualvollen Zeit für sie. Kibrom, mein jüngerer Bruder, war gerade in den Sudan geflohen, nachdem er über ein Jahr im Militärcamp Sawa festgehalten worden war, obwohl er seine militärische Ausbildung bereits absolviert hatte. Von Sudan aus setzte er seinen Weg mit illegalen Schleppern fort. Im August 2006 bereitete er sich dann darauf vor, das Mittelmeer zu überqueren. Wir, seine Familie, die in Eritrea war, hatten kein umfangreiches Wissen über alle Gefahren, die mit der Flucht verbunden waren. Allerdings befanden wir uns in großer Bedrängnis, da wir niemanden hatten, der uns vom Ausland aus finanziell hätte unterstützen können. Zu jener Zeit stand Kibrom mit mir in engem Kontakt, um die Familie über die täglichen Entwicklungen zu informieren. Ich erinnere mich noch genau an die Summe, die für die Weiterreise mit dem Boot gefordert wurde, 1500 Euro. Als das Geld bei ihm ankam, sagte er mir, dass sie in wenigen Tagen aufbrechen würden und dass ich mir keine Sorgen machen sollte, falls ich nichts von ihm hören würde.

Einige Tage später, als ich mit dem Bus zur Arbeit fuhr, liefen im Radio die Nachrichten:

„Ein Schiff mit 120 illegalen Migranten an Bord sank im Mittelmeer vor der Küste Libyens auf dem Weg nach Italien. Siebzig der Passagiere sind gestorben, zehn wurden gerettet und vierzig werden noch vermisst.“ Vielleicht war das nicht der genaue Wortlaut, aber das war die Botschaft. Alles begann sich zu drehen und mir wurde schwindelig. Ich sackte langsam in mich zusammen.

Ich bin mir nicht mehr sicher, ob in den Nachrichten erwähnt wurde, dass unter den Opfern Eritreer und Eritreerinnen waren. Aber ich war mir sicher, dass mein Bruder unter ihnen war. Die Wahrscheinlichkeit, dass er unter den zehn war, die gerettet wurden, habe ich gleich auf Null gesetzt.

Mihret Qelati, die Frau, die uns geholfen hatte, das Geld für die Reise meines Bruders aufzutreiben, hatte es sich von Leuten aus Italien geliehen. Ihr Sohn lebte in Asmara. Ich dachte, ich könnte durch ihn nähere Informationen bekommen, also wollte ich ihn anrufen. Im Amharischen gibt es ein Sprichwort, das lautet: „Wer beim Fragen genau nachhakt, dem wird der Tod seiner Mutter bekannt gegeben.“ Ich mich befand mich in der Situation des Sprichworts. Ich konnte die Nummer, die ich in meinem Telefon suchte, nicht finden. Meine Hände zitterten zu sehr.

Senayt Habtu, meine damalige Kollegin bei Radio Bana, die nun in England lebt, half mir. Dawit kam schnell von seiner Arbeitsstelle zu uns und ich erzählte ihm von den Nachrichten, die ich gehört hatte. Ich fragte ihn, ob seine Mutter ihn vielleicht angerufen hatte. Aber das hatte sie nicht. Sie taten alles, um mich davon zu überzeugen, dass meine Annahme falsch sei. Aber ich konnte ihnen nicht glauben. Zu der Zeit bereitete sich meine Freundin Azmera Gebreslasie gerade auf ihre Hochzeit vor. Ich teilte ihr mit, dass ich keine Brautjungfer mehr sein könnte und sie einen Ersatz finden müsste. Immerhin wartete ich auf eine Todesnachricht …

Tage später erreichte mich ein Anruf aus Italien. Mein Bruder war heil angekommen. Ufffff! Er war in einem anderen Boot gewesen. Mein Bruder ist die Tragsäule unserer Familie. Die Verantwortung lastete auf seinen Schultern, seitdem meine beiden jüngeren Brüder nach wiederholten Inhaftierungen die gleiche Reise angetreten hatten und aus Eritrea fliehen konnten. Er musste für jeden von ihnen um die 5000 Euro zahlen. Die Flucht ist mit der Zeit immer gefährlicher geworden und es sind nicht wenige, die nicht nur mit Geld, sondern auch mit dem Leben für sie zahlen mussten.

Wenn man die Probleme, die meinen Brüdern widerfahren sind, und das Geld, das sie an Schlepper zahlen mussten, damit vergleicht, dass andere Eritreer sich manchmal für zwanzig-, dreißig-, vierzigtausend Dollar freikaufen mussten, kann man sagen, dass meine Brüder sogar noch einigermaßen gut davongekommen sind. Jetzt leben zwei meiner Brüder in England und einer in Holland. Außer meinem jüngsten Bruder Temesgen haben mich alle bereits zur Tante gemacht.

Meinen Brief, der so viel und lang von der schrecklichen Reise erzählt, würde ich gerne mit Gedanken über die süße Kaktusfrucht beenden. Die Kaktusfrucht ist nicht nur stachelig, in ihr finden sich auch Kerne, die mitgegessen werden. Obwohl ihr Verzehr so mühsam ist, ist sie eine sehr beliebte Frucht bei uns. Im Sommer wird sie auch in Häppchen zum Kaffee serviert. Ich hoffe darauf, dass wir eines Tages wieder zusammenfinden und dann die Möglichkeit haben, auch den Kaffee und die Kaktusfrucht zusammenzubringen.

Voller Sehnsucht
Yirgalem

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Nur dreißig Kilometer entfernt - Brief 3

Sabina Brilo an Yirgalem Fisseha Mebrahtu: Ich habe mich sehr über Deine Antwort gefreut. Beim Lesen konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Es gibt viel Gemeinsames in unseren Schicksalen, doch das Wichtigste ist, dass Dein wie mein Schicksal in so direkter und grausamer Abhängigkeit zu dem Ort und der Zeit stehen, in denen wir geboren wurden und leben....... LesenText im Original

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