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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Sabina Brilo & Yirgalem Fisseha Mebrahtu > Eine Art Weltordnung in dieses kleine Territorium meines eigenen Lebens bringen – Brief 1

Eine Art Weltordnung in dieses kleine Territorium meines eigenen Lebens bringen – Brief 1

Sabina Brilo an Yirgalem Fisseha Mebrahtu, 18. Juli 2022

Übersetzung: Tina Wünschmann Aus dem Russischen

 

© privat

 

Grüß Dich, liebe Yirgalem!

Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll – wir kennen uns ja gar nicht persönlich. In meinem Land, Belarus, schreiben die Menschen aber schon seit fast zwei Jahren Briefe an Menschen, die sie nicht kennen – nämlich Briefe in Gefängnisse, adressiert an politische Gefangene. In den Gefängnissen meines Landes sitzen tausende unschuldige politische Häftlinge, Männer und Frauen, Junge und Alte, Arbeiter und Akademikerinnen. Wer in Freiheit ist, schreibt ihnen, doch durch die Zensur (oder vielleicht auch andere Gründe) kommen nicht alle Briefe bei ihren Adressaten an.

Die Massenverhaftungen in Belarus begannen im August 2020, als hunderttausende Menschen friedlich auf die Straße gingen und gegen Präsident Lukaschenko demonstrierten, der schon seit fast 28 Jahren unser Land regiert und nun zum wiederholten Male die Wahlen gefälscht hatte. Diese Demonstrationen waren völlig friedlich (die Belarussen zogen sogar ihre Schuhe aus, bevor sie mit Plakaten auf öffentliche Bänke stiegen!), doch die Regierung reagierte mit Gewalt auf die Protestierenden – sie schlugen, sie erniedrigten, sie warfen die Menschen in überfüllte Zellen.

Diejenigen, die es 2020 gewagt hatten, mit Lukaschenko um das Amt des Präsidenten zu konkurrieren, wurden zu achtzehn und vierzehn Jahren Haft verurteilt. Von den vielen Unterstützern sind heute 1.500 international als politische Gefangene anerkannt, obwohl die Zahl der Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind, tatsächlich noch viel höher liegt. 31 Journalistinnen sitzen im Gefängnis. Ihnen werden furchtbare Verbrechen zur Last gelegt: Extremismus und Staatsverrat. Dabei haben sie nur ihre Arbeit getan: Videoaufnahmen gemacht, Reportagen gesendet, Texte geschrieben, andere Menschen zu Wort kommen lassen. Im Gefängnis sitzen auch Künstler, Schriftsteller, Philosophen …

Bitte entschuldige, dass mein Brief so düster beginnt. So kann ich Dir besser erklären, warum ich, wie auch Du, nicht in meinem Land lebe. Vor einem Jahr, am 14. Juli 2021, rief mich mein Mann Andrei von der Arbeit aus an – er ist Menschenrechtsanwalt und Journalist – und sagte: „Du hast fünfzehn Minuten. Nimm dein Notebook und die wichtigsten Dinge und verlass das Haus.“ An diesem Morgen hatten Spezialeinheiten eine Gruppe belarussischer Menschenrechtler verhaftet. Im Land begann offiziell die „Säuberung“ – der Präsident erklärte, die Regierung „schneide den Krebstumor heraus“, und die gesamte Zivilgesellschaft war plötzlich in Gefahr. Seitdem haben die Repressionen nicht mehr aufgehört. NGOs wurden liquidiert (ich bin Mitglied im Belarussischen Journalistenverband und dem Verband der belarussischen Schriftsteller, beide wurden von der Regierung aufgelöst). Viele Hochschullehrende wurden entlassen (einige auch verhaftet). Ein Großteil der Anwälte, die politische Gefangene verteidigten, verlor die Lizenz, einige kamen selbst ins Gefängnis … Es fällt schwer, auf einer Seite zu beschreiben, was in meinem Land vor sich geht – es ist Gesetzlosigkeit kraft Gesetzes – eines Gesetzes, das nur der tyrannischen Macht dient.

So ist es also gekommen, dass ich nun schon ein Jahr lang nicht mehr zu Hause lebe. Mein Mann und ich leben jetzt in Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Das ist nur 180 Kilometer von unserem Minsk entfernt, doch die Menschen hier leben schon seit mehr als dreißig Jahren nach den Gesetzen und Regeln der Demokratie. Manchmal ist es schwierig zu erklären, wie wir uns fühlen, von unseren Erlebnissen zu berichten (meine Familie hat Hausdurchsuchung, Verhöre und das ständige Erwarten des morgendlichen Klingelns an der Tür durchlebt), denn selbst der aufmerksamste, empathischste Mensch kann sich, wenn er das Leben in Freiheit gewohnt ist, nicht vorstellen, wie das ist – in einem Raum zu leben, der per Willkür des Staates eingeschränkt ist.

Ich habe über Dich und Dein Land gelesen, habe mir Deine Erzählung auf YouTube angehört. Beim Klang des Wortes „Eritrea“ denke ich: Mein Gott, was für ein schöner Name! In einem Land mit diesem Namen können nur schöne, gute und ewig junge Menschen leben – fast wie Elfen 😊. Doch ich weiß, dass Eritrea in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ganz am Ende, neben Nordkorea, steht … Und ich weiß, was das für die Bürger des Landes bedeutet. Ich habe Eritrea mithilfe von Google Maps „bereist“, habe die gesamte Küste „abgelaufen“ und bin ein wenig durch die Hauptstadt geschlendert. Im Internet habe ich den Reisebericht eines russischen Touristen über Asmara gefunden. Diese Fotoreportage ist 2011 entstanden und ich musste daran denken, dass Du zu dieser Zeit im Gefängnis saßest … Diesem Schicksal konnten nun auch viele meiner Landsleute nicht entgehen. Mich beschäftigt unentwegt die Frage, wer uns allen nur helfen könnte. Wo gibt es in unserer Welt eine Instanz, die in jenen Ländern die Gerechtigkeit wiederherstellen kann, in denen es keine gerechte Justiz mehr gibt? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet.

Ich lebe jetzt in einer fremden Wohnung. All meine Sachen – Bücher, Kleidung, Schuhe, Fotoalben, mein Archiv, meine Sammlungen – sind zu Hause geblieben. In einer Wohnung, in die jederzeit fremde Menschen eindringen können. Unter anderem liegen dort auch zwei Steine, die ich „die Mönche“ nenne – zwei längliche Steine aus dem Meer, die ich einmal von einer Reise mitgebracht habe. Ich selbst habe ihnen Kraft und Bedeutung verliehen – mir scheint, sie können auf eine wundersame Weise mein leeres Zuhause vor dem Bösen beschützen. Weißt Du, ich vermisse mein Zuhause sehr. Ich möchte so gern hinfahren und die Wohnung von Grund auf putzen. Eigentlich putze ich nicht besonders gern, aber jetzt würde ich so gern eine Art Weltordnung in dieses kleine Territorium meines eigenen Lebens bringen, aus dem ich herausgerissen wurde.

Viele meiner Freunde und Kollegen haben Belarus in den vergangenen zwei Jahren verlassen. Viele sind aber auch geblieben. Meine Eltern sind geblieben (bei ihnen lebt jetzt unsere alte, weise Katze) und auch die Eltern meines Mannes. Ich vermisse sie sehr. Ich vermisse den Fluss, an dem wir spazieren gingen. Das Geschäft, in dem ich Lebensmittel kaufte. Den Weg, der zu diesem Geschäft führt. Die Straßenbahn. Die Parks. Ich vermisse die Orte, an denen ich mit meinem Sohn spielte, als er noch klein war, die Kioske, an denen ich ihm Süßigkeiten und Spielzeug kaufte … Doch ich zwinge mich, seltener daran zu denken, damit es nicht so schmerzt. Man muss ja weiterleben.

Liebe Yirgalem! Wenn Du meinen Brief beantwortest, erzähl mir bitte davon, was Du vermisst, wonach Du Dich sehnst. Was denkst Du – wirst Du je in Deine Heimat zurückkehren? Wartet sie auf Dich, warten dort vertraute und geliebte Menschen auf Dich? Schreib mir bitte auch, ob Du Dir Gedanken machst, warum in unserer zivilisierten Welt solche Geschichten wie die Deine möglich sind? Und wie die meine? Denn ist es nicht völlig unzivilisiert, wenn der Staat seine Bürger nicht beschützt, sondern unterdrückt, verfolgt, unschuldig verurteilt und sie zwingt, in anderen Ländern Unterschlupf zu suchen? Und wie Du siehst, liegt es nicht einmal an der Geografie – mein Belarus liegt in Europa, grenzt an Polen, Litauen, Lettland, die Ukraine und Russland. Die Nachbarschaft mit Russland bestimmt übrigens in vieler Hinsicht die Politik meines Landes. Doch das ist ein Thema für ein anderes Gespräch. Ich beende meinen Brief an dieser Stelle und werde auf Deine Antwort warten!

Ich umarme Dich!

Sabina Brilo

 

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