Dieser Hunger schadet dem Klima nicht – Brief 3
Lina Atfah an Rasha Azab, Wanne-Eickel, 23. November 2022
Übersetzung: Osman Yousufi aus dem Arabischen
Liebe Rasha,
als ich die Nachrichten und Fotos von Eurem Sit-in und Eurem Hungerstreik für den inhaftierten Aktivisten Alaa Abdel Fattah vor dem Hauptquartier des ägyptischen Journalisten-Syndikats sah, war ich von Deinem Mut und dem Deiner Freunde so begeistert wie entgeistert. Voller Schmerz warte ich seither auf jede Nachricht über Alaa Abdel Fattah und verfolge die Nachrichten seiner Mutter und Schwestern ohnmächtig und schweigend. Ich musste weinen, als ich sah, wie seine Mutter über ihr Warten sprach und ihre Angst, ob Alaa noch am Leben oder bei Bewusstsein sei, und wie sie am Ende mit der ganzen Macht der Mutterschaft ihre Tränen herunterschluckte, um den Kampf ihres Sohnes zu ehren.
Das bricht einem das Rückgrat. Diese Szene brachte mich zurück zu den Geschichten der Mütter der Inhaftierten in den Gefängnissen von Hafez al-Assad, die es so zahlreich in meiner Kindheit gab. Unsere Nachbarschaft war – ganz ohne Übertreibung – wie ein einziges Hilfswerk, so viele Inhaftierte gab es dort. In jeder Familie ein oder zwei Häftlinge. Die Frauen unterstützten sich gegenseitig, um ihre Söhne, Ehemänner und Brüder in den Gefängnissen Sednaya und Al-Mazzeh in Damaskus besuchen zu können. Dabei ist das Wort „Besuch“ überhaupt nicht geeignet, das Leid zu beschreiben, das diese Familien erlitten, um ihre Söhne zu sehen: das Warten auf die Besuchserlaubnis, das Vorbereiten der Lebensmittel und Packen der Kleider, die bittere Reise mit den Kindern, der Aufstieg zum Gefängnistor auf dem Gipfel des Berges, die Erpressung durch die Soldaten und all die menschenunwürdigen Demütigungen entlang des Eingangs bis zu den Durchsuchungen und Plünderungen. Diese „Besuche“ fanden mehrmals im Jahr statt und waren wie ein Fegefeuer. Am Ende konnten die Angehörigen den Inhaftierten nur hinter zwei Metallgittern begegnen, durch die kein Finger passte.
Die Großmutter meines Vaters starb zwei Jahre nach dem letzten Besuch bei ihrem Sohn. Sie starb, während er im Gefängnis saß, und so konnte er sie weder sehen noch an ihrer Beerdigung teilnehmen. Erst acht Jahre nach ihrem Tod wurde er freigelassen. Nach zwölf Jahren im Knast. Seine Verhaftung schadete allen – seiner Familie, seinen Freunden und seiner Stadt. Er hatte das Kulturzentrum verwaltet und das kulturelle Leben in der kleinen, armen Stadt am Rande der Wüste so sehr verbessert, dass seine Abwesenheit auch hier eine große Lücke hinterließ. Seine Familie erlebte durch seine Verhaftung eine Tragödie, die sich selbst auf mich, die Enkelin seiner Schwester, auswirkte – was eine lange Geschichte werden könnte.
In Raten und zu unterschiedlichen Zeiten zahlten alle Syrerinnen und Syrer hohe Preise unter diesem Regime. In den achtziger Jahren dachten wir, dass nichts noch Schlimmeres kommen könnte als die Ära von al-Assad, dem Vater, doch Diktatoren gelingt es immer wieder, dem blendenden Grauen nachzueifern, und so ist es in der Ära von al-Assad, dem Sohn, noch schlimmer gekommen. Die Situation, die wir seither haben, ist in ihrem Schrecken und ihrer Willkür unübertroffen.
Niemand kann sich vorstellen, was im Kopf eines Diktators vor sich geht. Hafez al-Assad ließ auch den Großvater meines Mannes verhaften, der in den sechziger Jahren Mitglied der nationalen Führung der Ba‘ath-Partei war. Er war einer der Politiker, die sich weigerten, den Putsch zu dulden, was ihn ohne Gerichtsverfahren in den Knast führte. Später lud Hafez al-Assad dann die Frau dieses Mannes, den er inhaftiert hatte, kurz nachdem er noch an seinem Tisch gegessen hatte, zu einem persönlichen Gespräch ein und sagte zu ihr: „Mach dir keine Sorgen, Umm Ali, ich werde mich um die Ausbildung deiner Kinder kümmern, bis sie die Universitäten abgeschlossen haben.“ Und sie antwortete erschrocken: „Solange wird ‚Abu Ali‘ im Gefängnis bleiben?!“
Der Großvater meines Mannes kam erst nach 23 Jahren Haft wieder frei.
Er erzählte mir einmal, dass er und ein anderer syrischer Häftling aus Solidarität mit Häftlingen aus Jordanien und Palästina in einen Hungerstreik getreten waren, um ihrer Forderung nach einem Gerichtsverfahren oder einer Freilassung Nachdruck zu verleihen. Die Gefängnisverwaltung lehnte den Streik ab, bedrohte sie und nahm sie in Einzelhaft, wo sie mit dem „deutschen Stuhl“ gefoltert wurden. Gegrilltes Fleisch, die köstlichsten Speisen, frisches Gemüse und Obst, wurden in ihrer Nähe abgestellt und am Ende, als die Körper der hungerstreikenden Gefangenen zusammenzubrechen begannen, wurden sie ins Gefängniskrankenhaus gebracht. Dort verabreichte man ihnen, an Händen und Füßen gefesselt, die Zwangsernährung.
Ein Arzt sagte zu dem Großvater: „Deine Frau und Kinder waren in meiner Klinik, sie weinten und fragten nach dir. Was haben sie falsch gemacht, dass du dir das antust? Die armen Kinder!“
Irgendwann gaben der Großvater und sein Freund dem Druck und den Manövern eines Offiziers aus dem Präsidialamt nach und beendeten den Streik in dem Wissen, dass sich nichts ändern würde. Als die Großmutter den Großvater das nächste Mal besuchte, ermahnte er sie: „Warum hast du die Kinder mitgenommen und sie vor dem Gefängnisarzt zum Weinen gebracht?“ Sie war schockiert und erklärte ihm, dass weder sie noch die Kinder je dort gewesen seien. Der Arzt hatte auf Befehl der Gefängnisverwaltung gelogen.
Beim letzten Gefängnisbesuch zu ihrem Sohn sagte die Großmutter meines Vaters zu ihrem Sohn: „Ich schwöre, mein Sohn, der Schmerz kommt durch ein Fenster herein und wird uns nur durch ein Nadelöhr wieder verlassen.“
In einem anderen Jahr verlangten die Häftlinge, dass die Gefängnisverwaltung ihnen ein Radio gebe. Nach Verhandlungen, Diskussionen und mit der Hilfe eines im Geheimen sympathisierenden Gefängniswärters erhielten sie ein Radio ohne Langwellen.
Alltägliche Details mögen einfach und beiläufig erscheinen, aber sie sind ein tiefes menschliches Bedürfnis und ihre Abwesenheit zerbricht die Seele in so viele Stücke, dass sie nicht wieder zusammengesetzt werden können. Das Bedürfnis, ein Lied zu hören, zu wissen, was in der Welt vorgeht, die Mutter zu umarmen, auf die Beerdigung des Vaters zu gehen, die Kinder aufwachsen zu sehen, sauberes Wasser zu trinken, bestimmte Speisen zu essen, saubere Kleidung statt durchnässte und mit dem Geruch feuchter Wände getränkte Lumpen zu tragen, auf einem bequemen Bett einzuschlafen: All das sind Dinge, die für die Menschen selbstverständlich sind. Die Völker unserer Länder müssen aber mit der Bitterkeit umgehen, dass wir selbst für die grundlegendsten Menschenrechte zu kämpfen haben. Während die Regierungen der demokratischen Länder zwischen der Verurteilung repressiver Praktiken und dem Unterschreiben von Ölgeschäften und zwischen der Aufnahme von Flüchtlingen und dem Verkauf von Waffen hin und her schwanken.
Dann versammeln sie sich zu einer Klimakonferenz in einem Land, dessen Regierung Umweltangelegenheiten für einen einzigen Witz und einen Tweet über die Tötung von Häftlingen in ihren Gefängnissen für eine Verletzung der nationalen Sicherheit hält. Die Klimakonferenz in Ägypten auszurichten, ist ungefähr so, als würde man ein Origami-Festival in einem Dorf organisieren, dessen Kamine nur mit Papier angeheizt werden.
Wer seine Beziehungen zu einem Diktator normalisiert und dessen Macht legitimiert, ist nichts als eine alte feuchte Mauer, die die Geschichte blockiert und unter der ein giftiger und bösartiger Pilz wächst. Unsere Freiheit ist so nur eine vorübergehende Frage oder ein Trumpf auf dem Verhandlungstisch.
Wenn wir die Wahl hätten, hätten wir uns gefragt, was der Sinn all dieser Opfer ist. Aber wir sind gezwungen, Helden oder Opfer zu sein, und unsere Mütter sind gezwungen, die Tränen des Verlustes und der Hilflosigkeit zurückzuhalten und den Tod zu wählen, anstatt einen Tyrannen um die Freiheit ihrer Kinder zu bitten. Wir haben keine Wahl angesichts von Willkür und Gewalt, wir kämpfen gegen eine Macht, die alles vernichten kann. Deswegen ist Konfrontation die einzige Möglichkeit. Die Frage nach dem Warum ergibt keinen Sinn, wenn wir irgendwann frei sein wollen. Alaa sagte: „Wenn sie an uns schon ein Exempel statuieren und wir anderen eine Lehre sein müssen, dann lasst uns dieses Exempel sein, aber wenigstens so, dass wir unseren eigenen Willen behalten.“
Ich schreibe Dir diesen Brief, nachdem Ihr das Sit-in und den Streik ausgesetzt habt und Alaas zweiter Brief veröffentlicht wurde. Ich habe Hoffnung, dass er bald zu seiner Familie und seinem Sohn zurückkehren wird. Ich hatte, ich hatte Angst nach unserem ersten Gespräch, Angst um Dich. Nachdem ich geflüchtet und zerbrochen bin, kann ich meiner Angst und meiner Schwäche nun ins Gesicht schauen. Ich weiß jetzt, dass ich wieder fliehen würde und dass ich mir wünsche, dass auch andere fliehen können, um zu überleben.
Zu Beginn der syrischen Revolution fragte mich meine Freundin, was Tod und Zerstörung überhaupt nutze, was es bringe, wenn ich sterbe. An diesem Tag überbot ich sie, schrie und hob meinen Zeigefinger zu einer feierlichen Predigt. Doch dann bin ich geflohen, und sie ist im Kreislauf des Terrors in Syrien stecken geblieben. Jahre später, als meine Freundin dieselbe Frage wiederholte, waren die Antworten anders und meine unbewusste Entscheidung zu fliehen, wurde zu einer bewussten Entscheidung, aber in gewisser Weise unterschreibe ich damit Alaas Satz: Wenn wir schon ein Exempel statuieren müssen, dann wenigstens eines nach unserem eigenen Willen.
Lina