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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Rasha Azab & Lina Atfah > An eine Wolke / Du wirst nicht allein regnen – Brief 4

An eine Wolke / Du wirst nicht allein regnen – Brief 4

Rasha Azab an Lina Atfah, Kairo, 14. Dezember 2022

Übersetzung: Kerstin Wilsch aus dem Arabischen

© Rasha Azab (modifiziert): „Als ich zu reisen begann, stellte ich fest, dass es mir Spaß machte, die Wolken zu beobachten, wenn sich das Flugzeug ihnen näherte, mitten durch sie hindurch flog und sie wieder verließ, um dann beständig über sie hinwegzugleiten.“

 

Liebe Lina,

Dein letzter Brief hat mich genauso berührt wie die Besucher der Lesung auf dem Abend im HAU. Immer wieder haben sie nach Deinem Leben und Deinen Gedichten gefragt. Da Du eine Reihe von Fragen gestellt hast, möchte ich Dir auch ein paar stellen.

Wann betrittst Du zum ersten Mal eine fremde Stadt, Lina? Ich gehe immer nachts in eine neue Stadt.

Bestimmt die Tageszeit, zu der wir eine Stadt betreten, unser Verhältnis zu ihr? Bleiben diese Augenblicke in unserem Gedächtnis liegen wie das unverbrauchte Benzin am Boden eines Tanks? Als etwas Notwendiges, aber ohne unmittelbaren Nutzen? Ein unbenutztes Gedächtnis. Wenn sich nur noch ein Rest Benzin im Tank befindet, kann es zu einem Motorschaden kommen. Die letzten Liter sind schwerer als Benzin normalerweise ist, über die Monate oder gar Jahre hinweg haben sich dort Verunreinigungen angesammelt.

Als ich zu reisen begann, stellte ich fest, dass es mir Spaß machte, die Wolken zu beobachten, wenn sich das Flugzeug ihnen näherte, mitten durch sie hindurch flog und sie wieder verließ, um dann beständig über sie hinwegzugleiten. Wir können die Sonne sehen, die unverhüllt über den Himmel wandert, ihre Flammen voller Sehnsucht, ihre ganze Glut jedoch spüren wir kaum. Die Wolken ähneln einem ausgebreiteten Gebetsteppich oder einem weißen oder grauen fliegenden Teppich. Wie in einem Kampf stoßen sie aneinander und dringen beim Zusammenprall ineinander. Wir werfen einen Blick nach unten, wie weiße Baumwolle schweben sie dort unter dem fliegenden Metallpfeil. Wie einfach die Realität doch ist, wenn wir sie von oben sehen!

Ich habe meine Freunde im Exil gefragt, wann sie in ihrem neuen Land ankamen. Die meisten antworteten „in der Nacht“, „im Winter“, „wenn niemand unterwegs war“, „im Nebel“. Den meisten begegneten die erschrockenen Gesichter der Städte und die stets nassen Bürgersteige, die Schritte waren lautlos und außer dem Lärm der schweren, über den Boden gezogenen Koffer waren nur die elektronischen Ansagen an den menschenleeren Bahnstationen zu hören, wie sie Ankunft oder Abfahrt der Züge ankündigten und die Reisenden mahnten, in der Bahn keine Taschen zurückzulassen. Doch für den Fremden sind die Taschen sein Leben, er würde sie nie vergessen.

Vor zehn Jahren oder mehr hatte die nächtliche Ankunft in einer neuen Stadt etwas Romantisches für mich, etwas Verträumtes, denn nachts atmen die Städte auf. Doch das hat sich geändert. Ganze Erinnerungs- und Erfahrungsschichten haben sich angehäuft, und ich habe gelernt, dass die Ankunft in einem fremden Land in einer langweiligen Nacht der Preis dafür ist, die Sonne am Himmel auf- oder untergehen zu sehen.

***

Ich rannte zum Wartebereich an meinem Flugsteig, den riesigen Körper des Flugzeugs und uns trennte nur eine Glasscheibe. Es war unter null, draußen verschluckte der Nebel die Hälfte der Dinge, das Flugzeug war ohne Heck, die Hälfte einer Lichtreklame ohne Bedeutung, ein Strommast ragte in den Himmel, ohne dass sein Ende sichtbar war. Mein Körper war noch erhitzt vom Rennen, als ich meinen Freunden per Handy mitteilte, dass ich es rechtzeitig zu meinem Rückflug nach Ägypten geschafft hatte, und mich in die Reihe der anderen Rückkehrer stellte.

Dann las ich die Nachricht: Tod eines Schmetterlings, der sich dem gleißenden Licht näherte! Noch bevor er eines Tages dorthin zurückkehren konnte, wo er gelebt, geliebt, Freundschaften geschlossen und Entscheidungen getroffen hatte. Der Tod erschien jetzt als Alternative zur Rückkehr, eine vollkommene Option. Ein endgültiger Rückzug vom Kampf. Bisher noch nicht erprobte, nicht ernsthaft verwendete Emotionen und Worte. Der Schmetterling wird vor uns allen verbrennen, während die Zuschauer damit beschäftigt sind, den Kontext, die historischen Umstände und den politischen Moment zu betrachten.

Ich sah mich um. In der Schlange am Gate war niemand, den ich kannte und dem ich die erschütternde Nachricht hätte mitteilen können: Mohamed Abo-Elgheit war tot. Der junge Journalist, der wie Tausende andere aus seinem Land vertrieben worden war. Er hatte bedeutende Recherchen angestellt und auf dem Höhepunkt der Revolution, als sie wie eine Welle über das Land hereingebrochen war, damit begonnen, einen großartigen Text über ihre Armen und Schwachen zu schreiben.

Abo-Elgheit starb im Exil. Einen Augenblick wie diesen, den Augenblick einer ganz normalen und verdienten Rückkehr, konnte er nicht mehr erleben. Die Zeit dehnt sich aus, wird zu einem Meer aus Sand. Sand, den man weder tragen noch weit werfen kann, Sand, in den man nicht eintauchen und in dem man nicht schwimmen kann. Wir nehmen die beängstigenden Momente dorthin mit, wohin wir zurückkehren. Sehnsucht wird zu einem Alptraum, ein Alptraum verwandelt sich allmählich in Sehnsucht zurück, die Wege sind voller Schrott. „Wie qualvoll war es doch, so lange zu hoffen“, sang Umm Kulthum eines Nachts, und weder wusste die Nacht von ihr, noch wusste Umm Kulthum von der Nacht, der Nacht jener, die in der Ferne sind.

Die Schlange am Gate war lang, sie bewegte sich nur langsam voran, eigentlich ging es überhaupt nicht vorwärts. Das Gate war noch nicht offen. Um die Starterlaubnis erteilen zu können, musste sich zuerst der Nebel weit genug auflösen. Da standen wir also und warteten darauf, dass er sich vom Boden hob. Der Himmel konnte ihn nicht ertragen, es genügte, dass unsere Herzen ihn ertrugen.

Ich verließ die Schlange und suchte nach einem Ort, um die angestauten Tränen zu vergießen. Der Augenblick überwältigte mich. Ich sah jetzt alles wie unter einem Vergrößerungsglas. Man konnte die Fakten nicht einfach unbeachtet lassen, ignorieren oder weise auf sie reagieren. Weisheit ist eine Metapher und Metaphern sind eine Flucht vor der ungeschönten Bedeutung. Der Hölle zu entfliehen ist ein Recht, aber es ist auch ein Recht, der Sonne zu begegnen.

Ein Freund verabschiedete sich einmal an einem Krankenhausbett in Paris mit den Worten von mir: „Wäre ich nicht krank geworden, wäre ich mit dir in der Heimat. Ich wollte sie nicht verlassen, trotz ihrer Grausamkeiten.“ Ich nickte heftig und antwortete: „Ich weiß.“

Sein Satz war damals sofort aus meinem Gedächtnis verschwunden, als hätte ich ihn vollständig verschluckt, ohne auch nur zu kauen, doch nun an der Flugzeugtür erinnerte ich mich plötzlich auch an ihn. Unversehens verwandelte sich die Tür in ein Vergrößerungsglas, durch das ich alle Ereignisse während dieser Reise sah. In Gedanken begann ich ihm zu antworten: Dein ganzes Leben hat dich verlassen, mein Freund, nicht umgekehrt. Um dich behandeln zu lassen, bist du aus dem Land gegangen, aus dem wegen der Armut und Not die Ärzte noch vor den Kranken fliehen, dem Land, das viele, die es lieben, viele seiner Talente vertrieben hat. Mit jedem, der ging, verlor unser Leben an Schönheit. Die Diktatur hat ihre Taktiken, uns zu umklammern, verfeinert, ihre Hyänen haben sich zusammengeschlossen wie eine Festung, die man nur überwinden kann, indem man um sich beißt und sie einschüchtert.

Wie soll ich euch beschreiben, welche Auswirkungen eure schmerzliche Abwesenheit aus unserem Leben hat? Unser Land – das sind wir und ihr. Es besteht aus eueren Worten, euerem Lachen, eueren Meinungen. Seit elf Jahren bewegen wir uns in einem Zeitloch, dessen Ende wir zu sehen glaubten, doch in Wahrheit ist es nicht zu erkennen, in Wahrheit kann eine einzelne Wolke keinen Regen bringen. Immer, wenn eine Zeile verschwindet, wird die Bedeutung zerstört. So stirbt ein Text nach dem anderen.

Die Worte meines Freundes im Krankenbett damals waren wie Fingernägel, die an meinem Verstand kratzten und sich tief in meine Nerven eingruben. Früher liebte er Metaphern und Wortspiele, doch in diesem Moment waren seine Worte klar, ehrlich und von leeren Emotionshülsen befreit. Im alltäglichen Leben bemühen wir uns, Worte auszuwählen, die zum Augenblick passen und schön klingen, doch wenn jemand krank ist, verkürzen sich die Entfernungen, bis sie ein Punkt sind, auf den der Pfeil auf direktem Wege zufliegt.

Das Flugzeug wurde geöffnet und die Schlange setzte sich in Bewegung. Die Passagiere drängten hinein, ich mittendrin. Menschen, die einander nicht kannten, zwängten sich und ihre Sachen zusammen, damit sie in den vorhandenen Frachtraum passten. Noch immer suchte ich nach einem Ort, an dem ich weinen konnte. Die Schlange schob sich ins Innere des Flugzeugs, um mich herum Glas, durchsichtig genug, um die Kälte zu spüren, keine Ecke, um sich kurz anzulehnen oder für ein paar Sekunden zu verstecken. Wir alle waren füreinander sichtbar, setzten einen Fuß vor den anderen, bis wir ankamen.

Wie immer war mein Platz ganz hinten im Flugzeug. Während ich dort hinging, sah ich in die Gesichter der Fluggäste und sie schauten unweigerlich in meines, wir musterten einander, endlich war ich an meinem Fensterplatz angekommen. Ich setzte mich auf meinen Platz, der nun der Ort war, an dem die Tränen fließen mussten, es ging nicht anders. Jetzt musste ich nur noch den richtigen Moment dafür auswählen, der Abflug erschien mir am passendsten.

Dieser Augenblick eignete sich aus mehreren rein wissenschaftlichen Gründen. Die Reisenden, die am Fenster sitzen, können die schnellen Veränderungen in den Luftschichten beobachten, die das Flugzeug nacheinander durchquert. Nun musste ich nur noch warten, bis der Wasserdampf auf den kalten Körper traf. Dann teilen sich auf der Fensterscheibe die Wassertropfen, schnell eilen sie entgegen der Flugrichtung davon, entgegen der Windrichtung, in klarem Widerspruch zur Bewegung des großen Körpers, der uns trägt. In diesem Moment könnte ich vielleicht die Natur imitieren, indem ich meinen Tränen freien Lauf ließ.

Für das Herz ist es der beste Moment zu springen, wenn das Flugzeug seine Krallen vom Boden löst, danach kehrt es an seinen gewohnten Platz, in seine Hülle zurück. Doch in Wirklichkeit wird das Herz herausgerissen, weil man es ständig verpasst, die Gelegenheiten beim Schopfe zu packen. Ich hätte einfachere Möglichkeiten zu weinen gehabt, in einer Stadt, in der sich meine Augen von selbst öffneten, seit ich dort angekommen war, die schreckliche Kälte trieb mir die Tränen in die Augen. Es wäre ein Leichtes gewesen, meine Tränen als „Windtränen“ zu kaschieren, wie ich sie nannte, aber dem Vergrößerungsglas entgehen solche Augenblicke nicht. Die Nachricht Abo-Elgheits Tod kam eben erst kurz vor dem Abflug.

Wenn ich es könnte, würde ich dir all meine Schritte geben, damit du zurückkehren kannst, lieber Freund! Einen Schritt für jeden Schritt, der seinen Weg im Exil nicht findet. Die gegenwärtige Diktatur hat das Trauerlied zerstört: Zurückgekehrt in die Heimat in einem Leichentuch. Selbst den Leichentüchern wollen sie die Rückkehr verwehren. Sie fürchten unsere Toten, nachdem sie im Exil zugrunde gegangen sind. Welch eine Schwäche, versteckt hinter Gewalt!

***

Liebe Lina, ich möchte, dass Du am Ende meines Briefs eine Sache verstehst: Ich liebe es, die Wolken zu beobachten, auch wenn ich jedes Mal von neuem enttäuscht bin. Ich beobachte, wie sie uns täuschen, uns etwas vormachen, wenn das Flugzeug sie durchquert, wir sehen dann nur Wasserdampf, kaum existenten, instabilen Wasserdampf, leuchtende Nutzlosigkeit, die bei plötzlicher Wärme schnell verschwindet. Dass sich die Wolken über uns befinden, verleiht ihnen ihre unerschütterliche Pracht, verschafft ihnen die Oberhand, sie herrschen über uns, doch wenn man sich ihnen nähert, wenn das Flugzeug, in dem ich sitze, sie berührt, wenn man sieht, wie ihre kleinen Tröpfchen hin- und herschweben, verschwinden und in Sekundenschnelle durch andere ersetzt werden, wird einem vor Augen geführt, wie sich die Zeit bewegt, wie sich fragile Geschöpfe bewegen, die wir lieben.

Liebe Lina, gibt es realistische Lösungen dafür, wie man mit Schmerz umgehen und eine offene Wunde, aus der die Flüssigkeiten des Körpers sickern, langsam verätzen kann?

Ihr Freunde im Exil … wir warten auf euch, wollen, dass ihr auf eueren Beinen zurückkommt, solange es im Herzen noch Schmerz gibt.

Das Flugzeug landete und ich verdrängte den Gedanken zu weinen vollkommen.

Ich war in Kairo bei Sonnenuntergang angekommen.

Rasha Azab

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