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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Nargis (Pseudonym) & Karosh Taha > Meine Imagination ist das Mächtigste, was ich habe - Brief 2

Meine Imagination ist das Mächtigste, was ich habe – Brief 2

Karosh Taha an Nargis (Pseudonym), Köln, 28. August 2023

Übersetzung: Ibrahim Hotak ins Paschtu

Bibliothèque nationale française © Karosh Taha
Karosh Taha arbeitet, wenn sie in Paris ist, immer in der Bibliothèque nationale de France © Karosh Taha

 

Liebe Nargis,

Dein Brief hat mich tief berührt.

Ich sehe, wie Du Dich auf den Weg zu dieser Buchhandlung machst, um mein Buch zu kaufen, und vor einem verschlossenen Laden stehst; wie die Bücher in den anderen Buchhandlungen grau umhüllt sind, als würde man sie zu Grabe tragen. Dieses Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ein befreundeter Schriftsteller, der ausschließlich auf Kurdisch schreibt, erzählte mir, dass er in den 1980er und 1990er Jahren seine Manuskripte auf Kassetten einsprach und in seinem Koffer über die syrische Grenze nach Libanon schmuggelte, wo sie dann gedruckt und verkauft wurden. Als verbotene Bücher, verfasst in einer verbotenen Sprache, durften sie nie offen gezeigt werden, sie wurden immer nur geschmuggelt oder in Taschen versteckt, immer mit der Angst, bei einer Kontrolle erwischt zu werden und damit Gefängnis und Folter zu riskieren. Wie liest man solche Texte? Mit der gleichen Ehrfurcht wie einen heiligen Text? Jedes Wort trägt die Last des Verbots, das Gewicht der Angst im Magen, das Zittern der Hände beim Halten des Blatts, den Schweiß auf der Stirn.

Ein anderer Freund, der einen kurdischen Gedichtband in seinem Rucksack trug, wurde von seiner Mutter dafür ausgeschimpft, weil sie Angst um das Leben ihres Sohnes hatte. Für sie war es ein Gedichtband nicht wert, dass er dafür sein Leben riskierte; ich weiß nicht, ob ich mein Leben für Gedichte riskieren würde. Ob ich überhaupt Schriftstellerin geworden wäre, wenn wir in Kurdistan geblieben wären? Das bezweifele ich stark. Die Auseinandersetzung mit Sprache ist mir durch das Deutschlernen fast aufgezwungen worden. Weil Deutsch nicht meine Muttersprache ist, habe ich zu dieser Sprache eine andere Beziehung – Kurdisch ist die Sprache, in der ich mich nicht so gut ausdrücken kann, wie ich das im Deutschen tue, aber sobald ich mit einem Fremden kurdisch spreche, entsteht eine Vertraulichkeit, als würden wir aufgrund der Historie dieser Sprache bereits ein Geheimnis miteinander teilen.

Die Hauptfigur in meinem Roman Im Bauch der Königin ist Shahira, eine willensstarke Frau, die sich die Freiheit herausnimmt, so zu leben, wie sie möchte, und trotz gesellschaftlicher Ächtung ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ihr wird zum ersten Mal in einem Park bewusst, wie klein und doch wie groß zugleich sie ist, wie bedeutend und zugleich unbedeutend, sie versteht, dass sie als Gottes Geschöpf so geschaffen wurde, wie ein göttliches Wesen einen Körper erschaffen würde. Diesen Körper zu verstecken oder sich für Makel dieses Körpers zu schämen, erscheint ihr als so engstirnig, dass sie beschließt, sich von diesem Tag an nur noch so zu bewegen, wie sie sich fühlt, und sich nur noch dorthin zu bewegen, wo sie frei ist. Shahira ist die Verkörperung von Jin, Jiyan, Azadi: die kurdische Forderung nach Freiheit und Leben für Frauen.

Ich stelle mir vor, wie Shahira, groß und nackt, durch die afghanischen Straßen läuft. All diese kleinen Männer mit ihren kleinen Herzen können der Riesin Shahira nichts anhaben. Sie zittern vielmehr vor ihr. Ich stelle mir vor, wie sie mit ihren rotlackierten Nägeln den Parkwächter wegschnippt. Ich weiß, dass das eine fast kindliche Vorstellung ist, aber meine Imagination ist das Mächtigste, was ich habe. Das wissen sie auch, deswegen verbieten sie Bücher. Meine Bücher würden niemals von diesen Männern erlaubt werden, meine Sprache wäre ihnen zu frei. Selbst in Deutschland schrieb ein Rezensent, er hätte sich geekelt, weil an einer Stelle die Monatsblutung erwähnt wird. Einige andere Rezensent*innen fanden mein Buch pornografisch, weil die Hauptfigur explizit über ihre Lust spricht. Bücher scheinen wie Kaffeesatz zu sein: Sobald Menschen über sie sprechen und darüber, was die Geschichte in ihnen ausgelöst hat, erzählen sie mehr über sich selbst als über das Buch. Es lag mir fern, Biederkeit oder Ekel in diesen Menschen auszulösen. Was mir aber nicht fernliegt, ist, so zu schreiben, dass meine Bücher von Regimen verboten werden.

Ich weiß nicht, ob das Wissen der Schlüssel dazu ist, die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen. Immerhin sind während und nach der europäischen Aufklärung schlimmste Verbrechen von ebenjenen aufgeklärten Europäer*innen begangen worden. Ich glaube, der bewaffnete Wächter aus Deinem Brief, der Dich nicht in den Park hineinlassen wollte, bräuchte kein Wissen, sondern Empathie: Wenn er in Dir einen Menschen sähe, wenn er verstünde, dass Deine Anwesenheit und die der anderen Frauen keine Bedrohung darstellt, müsste er Euch nicht ausschließen, müssten diese Männer nicht diskutieren, ob es erlaubt sein sollte, dass Frauen spazierengehen. Um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu empfinden, braucht man kein Schulwissen oder Wissen aus Büchern, sondern ein Herz. Ich schreibe Dir diese einfache Wahrheit, weil ich das Gefühl habe, dass in den Narrativen unserer komplexen Welt die einfachen Dinge, die wir im Kindesalter von unseren Eltern gelernt haben, verlorengegangen sind. Bildung und Schuld miteinander zu verknüpfen, nimmt solchen Parkwächtern beinahe die moralische Verantwortung, die jeder Mensch unabhängig von seinem Schulwissen hat. Diese Männer haben Angst davor, ihre Macht zu verlieren. Menschen, die Angst vor Machtverlust haben, wissen, dass ihnen diese Macht nicht zusteht – anders kann ich mir ihren diktatorischen Zugriff nicht erklären. Ihre Macht beruht auf der Unterdrückung anderer Menschen, und das Fundament ist so bröckelig, dass sogar Bücher sie stürzen könnten. Unsere Bücher.

Dieser Gedanke begleitet mich beim Schreiben, liebe Nargis.

Ich umarme Dich.

Karosh

* Dieser Brief erschien am 26. 09. 2023 in der ZEIT Online Kolumne 10 nach 8 

Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen ist eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben“ Untold Narratives – Weiter Schreiben. Correspondence with Afghan Authors is a collaboration between KfW Stiftung, Untold – Narratives CIC and Weiter Schreiben.”

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