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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Nargis (Pseudonym) & Karosh Taha > Mit der Kraft der Fantasie alle Hindernisse und Einschränkungen hinwegfegen! - Brief 3

Mit der Kraft der Fantasie alle Hindernisse und Einschränkungen hinwegfegen! – Brief 3

Nargis (Pseudonym) an Karosh Taha, Kabul, 01. Oktober 2023

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Pashto

© Privat

 

 

Liebe Karosh,

ich habe Deinen Brief gelesen, und er hat mich sehr berührt.

Ich kann mir bildlich vorstellen, wie Dein Freund sein Manuskript auf eine Kassette gesprochen und aus seiner Heimat mit in ein anderes Land genommen hat, in der Hoffnung, es dort zu veröffentlichen. In jenen Büchern, in denen die Wahrheit geschrieben wird, gibt es Gerechtigkeit, und die Stimme der Unterdrückten verschafft sich Gehör. Und es ist wahr, dass sie von Gefängnis und Folter bedroht sind und ihre Texte immer verborgen in Taschen weitergegeben werden.

Ich habe mir auch ausgemalt, wie Dein anderer Freund den Gedichtband in seinen Rucksack packte und damit sein Leben in Gefahr brachte. Offenbar wusste er den Wert eines solchen Buches zu schätzen.

Weißt Du, die Literaturschaffenden unseres Landes waren mit noch schlimmeren Situationen konfrontiert, als die Landesgrenzen geschlossen wurden und sie ihre Bücher und Werke nicht einmal mehr heimlich mitnehmen konnten.

Die Regierung hat festgelegt, dass allen Personen, die sie kritisieren, die Artikel oder Bücher über sie schreiben oder von ihrem Wahrheitsverständnis abweichen, die Todesstrafe droht. In einem solchen Land Schriftsteller:in zu sein ist außerordentlich schwierig. Die Literaturschaffenden müssen sich fragen, wie und wo sie ihre Werke verstecken sollen, und viele von ihnen sahen sich vor die Wahl gestellt, ihre Bücher entweder zu vernichten oder in der Erde zu vergraben.

Vielen Dank, dass Du mir ein Exemplar Deines Buches Im Bauch der Königin als pdf-Datei geschickt hast! Den ersten Teil habe ich schon gelesen und werde auch noch weiterlesen. Du hast einen sehr schönen Roman geschrieben, ich fand die Charaktere sehr fesselnd. Die Dialoge und Bilder erinnerten mich daran, dass einige meiner Landsleute, wie im Buch die Mutter von Younes, von vielen Dingen, die Eltern in westlichen Ländern selbstverständlich sind, nichts wissen – zum Beispiel, als Younes´ Mutter zum Schulleiter ging und er Dinge thematisierte, die sie zu Hause besprechen sollten, und sie anfing zu weinen und sich den Schleier vor das Gesicht zog.

Sei nicht enttäuscht, wenn sich die Rezensent:innen ablehnend über Dein Werk äußern, weil Du die Wirklichkeit beschreibst oder sie Deine Vorstellungen für Pornografie halten. Ich glaube, dass die Kritiker:innen Dich mit ihren Äußerungen nicht von Deinem Vorhaben und Deiner Arbeit abbringen werden. Sie tun das nur, weil sie nicht selbst einen Stift nehmen und etwas Kreatives schreiben können, denn das wird nie passieren.

Liebe Karosh, irgendwann habe ich auf Google recherchiert und bin dabei auf ein Interview gestoßen, das Katy Derbyshire mit Dir geführt hat und das ich sehr interessant fand; es wurde am 24. März dieses Jahres veröffentlicht. Am Schluss dieses Interviews hast Du gesagt, dass Du gerade in Zaxo, Deiner Heimatstadt in Kurdistan, bist, und dass das Interview am 21. März, also an Nouruz[1], geführt wurde. Als ich das las, musste ich ebenfalls an das diesjährige Nouruz bei uns denken. Du hattest das Glück, Nouruz in Deiner Heimat und Deiner Region zu feiern. Ich hatte Lust, hier auf einen Hügel zu steigen, den schönen Frühling zu betrachten und frische Luft zu atmen, aber das wurde mir verwehrt. So wie Du gingen sicher viele Kurd:innen in die Berge und freuten sich über die Ankunft des Frühlings.

In diesem Jahr wurde in unserem Land offiziell von den Medien verkündet, dass Nouruz, im Gegensatz zu den früheren Jahren, kein Feiertag mehr ist. Niemand durfte den Tag feiern, sonst drohte eine Strafe, und das, obwohl Nouruz in unserem Land schon seit sehr langer Zeit ein Feiertag ist. Seit ich mich erinnern kann, wird dieser Tag als Festtag angesehen. Wenn sich der Winter verabschiedet und der 15. Tag des Monats Hūt[2] naht, ändert sich das Wetter. Der Winterfrost ist vorbei und tagsüber scheint meist die Sonne. In den Häusern räumen unsere Mütter und älteren Schwestern oder auch unsere Schwägerinnen die Heizkörper und Stühle weg und bringen die Teppiche zum Ausklopfen und Waschen in die Innenhöfe. Die Wände der Zimmer werden frisch gestrichen. In diesen zwei Wochen, das heißt vom 15. Tag des Monats Hūt bis zum Monatsende, bereitet sich jeder Haushalt auf das Nouruz-Fest vor. Die Mütter kaufen dazu für ihre Kinder Stoffe auf dem Markt und nähen ihnen neue Kleider. Entsprechend ihren Mitteln und Einkünften bereitet jede Familie köstliche Speisen vor, zum Beispiel die typischen Nouruz-Gerichte wie Haft Mewa[3], Samanak[4], Neujahrsplätzchen und weitere Speisen. Die Familienmitglieder versammeln sich um den gedeckten Tisch. Viele Familien packen auch ihr selbstgekochtes Essen und ein paar Decken ein und fahren damit zu Ausflugsorten oder ins grüne Bergland. Dort machen sie ein Picknick und verbringen eine gute Zeit. Sie genießen den Blick in die Natur und atmen die saubere und duftende Frühlingsluft. Die meisten Menschen verbringen diesen Tag draußen. Die traditionelle Überzeugung besagt, dass jemand, der an Nouruz gutes Essen isst, auch bis zum Ende des Jahres gut zu essen haben wird. Mit dem gleichen Gedanken kauft man neue Kleidung und macht ein Picknick, einen Ausflug oder eine Reise. Man geht davon aus, dass jemand, der an Nouruz zu Hause sitzt, das ganze Jahr über zu Hause sitzen wird, und es heißt, dass jemand, der zu Hause sitzt, sich nicht weiterentwickelt. Aber dieses Jahr an Nouruz sollten die Männer zur Arbeit gehen und die Frauen zu Hause bleiben. Doch wie sollten die Frauen das ertragen? Also haben sie sich einen Ausweg überlegt. In den Städten verließen die meisten von ihnen das Haus, da der Tag ja offiziell als Arbeitstag galt und Basare und Geschäfte geöffnet waren. Unter dem Vorwand, Einkäufe auf dem Basar zu erledigen, verbrachten die Frauen den ganzen Tag draußen.

Und so lief es bei uns ab: Die Kinder aus dem Haus zogen ihre neuen Kleider an, füllten ihre Taschen mit Obst und gingen hinaus in den Garten hinter dem Wohnblock. Sie rannten auf der Wiese um die Wette, hatten Spaß dabei, mit ihren Freunden zu spielen, und erzählten sich Geschichten. Ich habe sie vom Fenster meiner Wohnung aus beobachtet. Das hat mir viel Freude bereitet, bis mir plötzlich zwei Männer ins Auge fielen. Sie standen jenseits des Eisengitters, das den Wohnblock abriegelt, und riefen die Kinder zu sich. Ein paar Mädchen und Jungen näherten sich ihnen und die Männer sagten ihnen etwas. Dann sah ich die Kinder eilig umkehren und zurückrennen. Ich wurde unruhig, als ich sah, dass sie kurz darauf den Garten verließen. Mein Enkel und meine Enkelin klopften heftig an die Tür. Ich lief hin und öffnete ihnen. Ich sah, dass sie beide ganz verängstigt waren, und sie erzählten mir, dass zwei Onkel ihnen gedroht hätten. Sie hätten sie gefragt, warum sie so festlich gekleidet seien. Dann sagten sie, sie sollten schnell nach Hause gehen, Nouruz sei abgeschafft.

Die Kinder fragten mich, warum sie so etwas sagten. Ich wusste nicht, was ich ihnen antworten sollte. Was werden sie denn noch alles tun, wenn in dieser kurzen Zeit noch ein weiteres Verbot zu all den vorherigen Verboten hinzugefügt wurde?

Ich habe eine Freundin, die äußerst geschickt im Handarbeiten ist. Sie fertigt sehr schöne und feine Stickereien an und näht die hier typische Kleidung für Frauen. Normalerweise stellt sie während des Jahres mehrere Kleidungsstücke her und wartet dann darauf, dass eine Verkaufsausstellung stattfindet, auf der sie diese selbstgefertigten Sachen ausstellen und verkaufen kann. Die letzte Ausstellung fand vor ungefähr zwei Monaten statt. Ich bin hingegangen, um mir die Kleider anzusehen, und sah dort meine Freundin. Sie wirkte sehr glücklich. Nachdem die Ausstellung zu Ende gegangen war, rief ich sie an. Sie erzählte mir, dass sie mehrere Kleidungsstücke zu einem guten Preis verkaufen konnte. Von dem Erlös kaufte sie neue Materialien wie Stoffe, Fäden, Perlen, Spitze und andere Dinge, denn sie wollte sich auf die nächste Ausstellung vorbereiten. Aber dann – wie schade! Wie unendlich schade! Vor ein paar Tagen wurde eine neue Anordnung erlassen, wonach solche Ausstellungen bis auf Weiteres untersagt sind.

Gestern hatte ich zwar außer Haus nichts zu erledigen, aber ich ging trotzdem nach draußen und lief bis spät durch die Straßen, so lange, bis ich richtig müde war. Dann kehrte ich nach Hause zurück. Sowohl heute als auch morgen dürfen Frauen nämlich nicht das Haus verlassen.

Aber, liebe Karosh, man sagt ja, dass das mächtigste Werkzeug von allen die eigene Vorstellungskraft ist. Wir sollten Verbindung zu dieser Vorstellungskraft aufnehmen und alle Hindernisse und Einschränkungen damit hinwegfegen.

Ich umarme Dich.

Nargis

 

[1] Frühlings- und Neujahrsfest in vielen Ländern Westasiens

[2] Afghanischer Monatsname (20. Februar bis 20. März, entspricht dem Tierkreiszeichen Fische)

[3] Wörtlich übersetzt „sieben Früchte“, afghanisches Neujahrsgetränk (A.d.Ü.)

[4] Afghanische Neujahrsspeise aus Weizenkeimlingen (A.d.Ü.)

Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen ist eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben“ Untold Narratives – Weiter Schreiben. Correspondence with Afghan Authors is a collaboration between KfW Stiftung, Untold – Narratives CIC and Weiter Schreiben.”
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Karosh Taha an Nargis (Pseudonym): wo fange ich an? In so kurzer Zeit sind wieder so viele menschengemachte Katastrophen passiert, dass es nicht auf drei Seiten passt – liebe Nargis, ich möchte dir mit einem Gedicht antworten, weil die Sätze sonst nicht ausreichen. Lesen

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