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Die verschlossene Tür – Brief 1

Nargis (Pseudonym) an Karosh Taha, Kabul, Afghanistan, 28. Juli 2023

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Pashto

© Nargis „Ich rief die Facebook-Seite der Buchhandlung auf und sah, dass die Seite nicht mehr aktiv ist und es seit einem Jahr keinen neuen Beitrag mehr gegeben hat.“

Liebe Karosh,

als ich zum ersten Mal Deine Stimme und Deine Worte übers Telefon hörte, bekam ich große Lust, Dich und Deine Werke näher kennenzulernen, und habe deshalb erstmal ein paar Google-Recherchen gemacht. Ich habe einen Auszug aus Deinem Buch „Im Bauch der Königin“ gehört, das Grashina Gabelmann, die Dein Buch ins Englische übersetzt hat, mit ihrer schönen Stimme vorlas. Das Zuhören hat mir so sehr gefallen, dass ich beschloss, nach dem Buch zu suchen. Ich rief die Facebook-Seite der Buchhandlung auf und sah, dass die Seite nicht mehr aktiv ist und es seit einem Jahr keinen neuen Beitrag mehr gegeben hat. Das wunderte mich sehr.

Am nächsten Tag ging ich zu der Buchhandlung in Kabul, in die ich immer gehe, und in der ich schon oft Bücher gekauft habe, die mir gefallen. Diese Buchhandlung ist sehr groß, und sie hat auch einen Online-Service. Konnte man ein Buch in einer der anderen Buchhandlungen nicht finden, fand man es hier auf jeden Fall. Ich wusste, dass Dein Buch nur ins Englische übersetzt worden ist, das hattest Du mir gesagt. Weil ich einigermaßen gut Englisch lesen kann, hatte ich mir vorgenommen, Dein Buch „Im Bauch der Königin“ in der Übersetzung zu kaufen. Aber weißt Du, was ich vor dem Buchladen feststellen musste? Die Ladentür war mit einem großen Schloss abgesperrt. Das hat erstaunte mich sehr, denn immer wenn ich früher diesen Buchladen früher aufsuchte, stand die Tür für Kunden jederzeit offen. Ich ging also in den Lebensmittelladen nebenan, um herauszufinden, wohin der Buchladen umgezogen ist. Der Ladenbesitzer lachte vielsagend und sagte, dass der Buchladen geschlossen sei. Erstaunt fragte ich, warum. Er lächelte und antwortete, dass dessen Zeit eben vorbei sei: Niemand komme mehr, um Bücher zu kaufen. Zudem stand der Laden seitens der Regierung unter Druck. Der Besitzer wurde jeden Tag verhört und sie durchsuchten seine Buchbestände. Ihm wurde gesagt, dass er dieses oder jenes Buch aus dem Sortiment nehmen oder nicht mehr zum Verkauf anbieten solle. Er fragte sich daraufhin, was er tun solle. Und letztlich entschied er sich, den Laden ganz zu schließen.

Bei diesen Worten des Lebensmittelverkäufers blieb mir der Mund offenstehen. Er fuhr fort: „Der Arme hatte Angst, eingesperrt zu werden. Eines Tages fuhr er mit einem Mazda-Lieferwagen vor und lud alle Bücher hinein. Gott weiß, wohin er sie gebracht oder ob er sie vielleicht mit zu sich nach Hause genommen hat. Seit diesem Tag haben wir ihn nicht mehr gesehen.“

Hoffnungslos und den Kopf voller Gedanken ging ich nach Hause. Bisher war ich immer, wenn ich ein Buch brauchte, in diesen Laden gegangen und hatte es mir dort gekauft. Aber jetzt ist alles anders in meiner Heimat. Auch die Erlaubnis, Bücher zu verkaufen, wurde den Menschen entzogen. In der Stadt sind mir an mehreren Orten am Straßenrand Buchhandlungen ins Auge gefallen. Sie hatten ihre Bücher in eintönig graue Umschläge eingeschlagen. Ich fragte einen der Buchhändler, warum, und erfuhr, dass sie bis auf Weiteres nicht verkauft werden dürfen. Den Worten des Ladenbesitzers entnahm ich, dass der Stadt all meine Wissens- und Lichtquellen entzogen worden sind.

Ich machte mich auf den Weg zurück nach Hause. Dabei kam mir mein verstorbener Vater in den Sinn. Als ich noch ein Schulkind war, stand unser Nachbar mit meinem Vater auf der Straße, und die beiden unterhielten sich. Unser Nachbar, ein dicker Mann mit vorstehendem Bauch, sagte zu meinem Vater: „Diese Regierung gönnt uns kein ruhiges Leben.“ Mein Vater, ein großer schlanker Mann, rückte seinen Turban auf dem Kopf zurecht und fragte, was er meine. Daraufhin beklagte sich der Nachbar, dass an jenem Tag Regierungsbeamte in die Straße gekommen seien und die Namen der Kinder in die Schullisten eingetragen hätten. „Ich habe dem Beamten einen Turban aus Maschhad geschenkt, damit er die Namen meiner Söhne nicht einträgt.“ Mein Vater lächelte vielsagend und sagte: „Sie haben Ihre Söhne von der Schule genommen. Und ich habe die Namen meiner Töchter angegeben, damit sie in die Schule aufgenommen werden.“

Mein Vater war ein sehr guter Mensch und ein wahrer Muslim.   Ich war zehn Jahre alt und in der vierten Klasse, als er diese Welt verließ. Auch nach seinem Tod besuchte ich mit der Unterstützung und Förderung meiner Mutter weiterhin die Schule bis zur zwölften Klasse und studierte anschließend an der Universität bis zum Masterabschluss. Ebenso war es bei meinen Schwestern und Brüdern. Alle haben gute Jobs gefunden. Es ist etwas Wahres dran an dem, was Sokrates sagte: „Es gibt nur ein einziges Gut für den Menschen, das Wissen, und nur ein einziges Übel: die Unwissenheit.“

Liebe Karosh, wenn mein Vater mich nicht für die Schule angemeldet hätte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, diesen Brief zu schreiben und ich wäre nicht von Laden zu Laden gegangen, um Dein Buch zu finden. Als Analphabetin und ohne Bildung zu leben, wäre für mich eine Tragödie.

In meiner Heimat sind den Mädchen die Tore von Schulen, Kursen, Universitäten, Büros und Parks verschlossen. Das ist doch absurd! Völlig absurd! Was bedeutet es, wenn im 21. Jahrhundert die Schultore geschlossen sind? Leider gibt es darauf nur eine Antwort: Es bedeutet die Ausbreitung und Stärkung von Unwissenheit.

Ich leide an rheumatischer Arthritis. Fast jeden Tag schmerzen meine Beine, Hände und Knochen. Die Ärzte haben mir gesagt, ich solle spazieren gehen, damit sich meine Beschwerden nicht weiter verschlimmern und ich womöglich irgendwann gar nicht mehr laufen kann und ans Bett gefesselt bin. Ich habe den Rat der Ärzte befolgt. In der Nähe unseres Hauses liegt ein Park. Er wurde mit Hilfsgeldern aus anderen Ländern angelegt. Viele andere gesundheitlich beeinträchtigte Frauen und Männer wie ich gingen regelmäßig zum Umherspazieren dorthin. Viele junge Frauen und junge Männer wiederum trafen sich dort, um sich zu amüsieren und die Langeweile zu vertreiben. Viele ältere Frauen wie ich gingen dort umher. Wenn sie müde wurden, setzten sie sich auf einer Parkbank in die Sonne, um Vitamin D zu tanken. So habe ich es auch gemacht. Ich konnte ein wenig frische Luft atmen und eine einigermaßen gute Zeit dort verbringen. Nun aber sind die Tore dieses Parks sowie aller anderen Parkanlagen vor mir verschlossen, und so gehe ich jetzt auf Bürgersteigen spazieren. Vor kurzem war mein fünfjähriger Enkel da, und wir kamen zum Park. Er griff nach meiner Hand, zog mich dorthin und sagte, ich solle mit ihm hineingehen. Ich antwortete, dass mir dies nicht erlaubt sei, doch er wollte das nicht akzeptierten und blieb hartnäckig. Ich gab nach und näherte mich dem Parkeingang. Der Parkwächter, ein Gewehr über der Schulter, rief mir zu: „Wohin wollen Sie? Sie sind auf dem falschen Weg, oder?!“ Ich entgegnete ihm: „Nein, ich bin nicht auf dem falschen Weg. Mein Enkel hier hat darauf bestanden, dass ich mit ihm in den Park gehe.“

Der Wächter rief: „Dazu haben Sie keine Berechtigung. Wenn Ihr Enkel in den Park gehen will, soll er das tun. Sie aber gehen weg von hier! Obwohl Sie schon alt sind, wissen Sie offenbar immer noch nicht, dass Sie sich von den Orten der Männer fernhalten sollten!“

Meinem Enkel gefielen diese Worte gar nicht, und er zog mich am Ärmel, damit wir von dort wegkamen und uns auf den Rückweg nach Hause machten. So wie mich gibt es noch viele andere Frauen und junge Mädchen, die gerne spazieren gehen, denen jedoch der Zutritt zu Parks verwehrt bleibt. Sie haben daraufhin übrigens eine Initiative gestartet. Morgens, wenn es hell wird, verlassen sie ihre Häuser. So früh am Morgen sind auf den Straßen nicht viele Autos unterwegs. Die Frauen gehen sowohl auf den öffentlichen Straßen als auch auf den Gehwegen spazieren und schnappen frische Luft. Wer sie sehen würde, könnte sie für Teilnehmerinnen einer Demonstration halten. Aber sie gehen sehr ruhig und gesittet. Noch haben die Schwestern und Mütter meiner Heimat diese Freiheit. Doch wir wissen, dass bereits darüber nachgedacht wird, den Frauen das Spazierengehen auch auf der Straße zu untersagen. Wenn ich mich auf der Straße bewege, wächst mein Selbstvertrauen, und ein kleiner Anflug von Freiheit lebt in mir auf.

Wir Frauen, die auf die Straße gehen, ertragen zwar die schwierigen Umstände, aber wir halten deswegen nicht still. Wir krempeln die Ärmel hoch für den Tag, an dem wir frei sein und ein ehrenvolles Leben haben werden. Die Frauen meines Landes sind stark und widerstandsfähig wie Stahl. Unermüdlich werden wir uns für dieses Ziel einsetzen und kämpfen. Ich glaube fest daran, dass eines Tages das Licht über die Dunkelheit und das Wissen über die Unwissenheit siegen wird.

Deine Nargis

* Dieser Brief erschien am 21. 8. 2023 in der ZEIT Online Kolumne 10 nach 8 

 

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