Ich erlaube mir, Dir das zu erzählen – Brief 3
Heike-Melba Fendel an Naeema Ghani, Berlin und München, 23. Oktober 2023
Übersetzung: Ibrahim Hotak ins Paschtu
Liebe Naeema!
Ich danke Dir für Deine reichhaltigen Zeilen. Sie ermutigen mich auf vielfältige Weise. So etwa in der einleuchtenden Verschwesterung von Stolz und Scham, die Du vollziehst. Der durchaus eine Ermutigung stolz zu sein innewohnt und die beides – Stolz und Scham – als Empfindungen sieht, die sowohl wertvoll wie zerstörerisch sein können.
Mir ist, davon schrieb ich ja bereits, die Scham ein ständiger Begleiter. Stolz hingegen überfällt mich allenfalls als kurze Regung. Eine Regung, die ich als beinah verboten erlebe, obschon ich mich nicht erinnern kann, dass sie mir jemals verboten wurde.
Stolz auf mich selbst zu sein, empfände ich als eitel. Stolz auf jemand anderen zu sein als übergriffig. Jetzt, wo ich dies schreibe, frage ich mich, ob meine Tochter sich nicht vielleicht gewünscht hätte oder sogar immer noch wünscht, ich möge stolz auf sie sein. Einfach, weil sich dieser Stolz auch als Liebe lesen ließe. Nicht in jenem gestrigen Sinne, in dem vor allem Väter Gefühle vor allem für ihre Söhne nur über das Band der Leistung ziehen konnten. Und mit Dritten nicht darüber gesprochen wurde, wie es den Kindern gehe, sondern was sie beruflich erreicht haben.
Mir war tatsächlich nie wichtig, was meine Eltern über mich und mein Leben dachten. Sehr spät erst habe ich bemerkt, dass es meinen Vater stolz machte, wenn er mich im Fernsehen oder in der Zeitung sah. Vor allem deshalb, weil er wusste, dass andere es sahen. Er war nicht stolz auf mich, weil er auch sonst nichts von mir wusste und weiß. Er war stolz auf die Sichtbarkeit seiner Tochter für andere.
Das nun hat rein gar nichts mit dem Stolz auf Errungenschaften, kollektive gar, zu tun, den Du beschreibst. Ein Stolz also, der nah an der Freude wurzelt. Meine Mutter, das weiß ich, hat sich über mich gefreut und meine Sichtbarkeit gefreut. „Was sagst du eigentlich, wenn dich Leute fragen, was ich mache?”, habe ich sie mal gefragt. „Och, ich sage immer, du machst nichts Gescheites”, hat sie geantwortet und sehr gelacht. Ich war damals Journalistin und habe berühmte Menschen für Hochglanzmagazine interviewt. Einmal habe ich sie unangemeldet besucht und fand sie beim Kaffeeklatsch mit ihren Freundinnen. Die Magazine lagen – die Seiten mit meinen Artikeln sorgsam aufgeschlagen – auf den Tisch drapiert.
Meine Mutter hat ihre Heimatstadt Köln immer sehr geliebt. Ich habe nie gewusst, dass man eine Stadt lieben kann. Es fühlte sich falsch an, wie auch Stolz sich für mich falsch anfühlt. Deine Idee einer Heimat in der Welt, wo und wie auch immer sie sich uns gerade zeigt und wo auch immer wir uns gerade befinden, ist eine sehr schöne. Ich sehe sie als Utopie, als einen Ort also, an den ich gern gelangen möchte. Meine Mutter ist Zeit ihres Lebens in dem von ihr geliebten Köln geblieben, wo sie seit ihrem Tod vor sieben Jahren nun auch begraben liegt.
Ich habe Köln am 3. Oktober dieses Jahres, dem Tag der Deutschen Einheit, für immer verlassen. 23 Jahre fuhr ich hin und her zwischen Köln und Berlin. Zugewiesene Heimat die eine, willkommener Fluchtpunkt die andere Stadt. „Ich lebe in zwei Städten”, antwortete ich, wenn ich nach meinem Wohnort gefragt wurde. In Wahrheit lebte ich in der Unentschlossenheit, im Transit, im Dazwischen. Ich habe mich also nicht gegen Köln und mein ganzes halbes Leben dort entschieden, sondern gegen die Unentschlossenheit. Du schreibst ja von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, treffen zu können. Entscheidend ist eine Fähigkeit, denke ich. Teil dieser Fähigkeit ist es, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. Sofern es in unserer Hand liegt, das selbst zu können und die nötige Zeit zu haben. Ich habe 23 Jahre gebraucht, um an den Punkt zu kommen, an dem ich wusste: Ich will nicht mehr pendeln und ich werde es beenden. Viele Jahre hatte es mich bereits zerrissen und ermüdet und doch schien es mir alternativlos – ein Wort, das in der deutschen Politik seit ein paar Jahren kursiert. Es ist ein trauriges Wort, weil es den Möglichkeitssinn negiert. Dann passierte etwas, das Du, denke ich, verstehen wirst: Ich schrieb ganz nebenbei eine Kolumne über das Pendeln, locker und überspitzt, nichts Besonderes. Als ich den Text Wochen später noch einmal las, sagte er mir sehr deutlich: Das ist keine satirische Zuspitzung, das ist dein Leben. Und es war mit einem Mal ein Leben, das ich nicht mehr führen wollte. Aus dem Text wurde ein Handlungsimpuls. Zwei Wochen später war die geliebte Wohnung verkauft, der Weg in den Abschied geebnet.
Ich erlaube mir, Dir das zu erzählen Naeema, weil Du von der Kraft im inneren Herzen schreibst. Und weil es möglich ist, dass diese Kraft sich auch durch die Worte bahnt, die dort ihren Ursprung haben. Und die zu Entscheidungen und dann zu Handlungen werden. Ich bin also besten Mutes aufgebrochen, doch in diesen Aufbruch drang ein unbekannter Schmerz. Meine letzten Tage und zumeist schlaflosen Nächte in Köln waren von so intensiven Gefühlen bestimmt, wie ich es von mir als beherrschter Person nicht gewohnt war. Ich überquerte Rheinbrücken, besuchte den Dom und die vielen romanischen Kirchen, die meine, ebenfalls verstorbene, Schwester als Stadtführerin so kundig zu beschreiben wusste. Auf den Brücken spürte ich den imposanten Strom unter mir und begriff, nein spürte zum allerersten Mal: Auch ich liebe diese Stadt.
Gefühle sind so volatil, Naeema, und ich bewundere die Klarheit, mit der Du sie zu kartografieren und in eine überzeugende Variante von Moral zu rücken weißt. Es ist ja so, dass die Momente, in denen wir vollkommen bei uns und der Klarheit unserer Empfindung sind, zugleich jene sind, die uns mit allen anderen verbinden. Überall.
Und so räsoniert dieser Verlust meiner Kölner Heimat, den ich seit jenem 3. Oktober so überraschend wie fortdauernd empfinde, mit dem Deinen und dem der vielen anderen, die, anders als ich, ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben. Er ermöglicht mir den Hauch einer Ahnung von jener Variante Abschied, die Flucht und Emigration mit sich bringen.
Ich hoffe, das klingt nicht anmaßend, aber Deine Zeilen haben mich ermutigt, mich nicht für etwas zu schämen, das mich in Nähe und Verbindung zu anderen setzt.
Während ich dies schreibe, stockt uns allen der Atem, weil einmal mehr vor den Augen der Welt passiert, was unvorstellbar und doch zugleich dem Menschen möglich ist. Mir stocken auch die Worte, gesprochene wie geschriebene, weil ich keine Wörter finde, die nicht bloß meinen würden, sondern geben könnten. Wir brauchen, so denke ich, weniger denn je Meinungen oder Standpunkte, „Takes” oder Gewissheiten – Du schriebst ja über die Fallstricke von Gewissheit. An all das sind unsere Wörter nicht mal verschenkt, sondern verschleudert.
Atemlos und wortlos also verbringe ich diese Tage an meinem nunmehr einzigen Wohnort Berlin. Ich streife durch die Straßen und Viertel, in denen arabischstämmige Menschen ihren Zorn auf Israel konfigurieren. Ich stehe vor dem Brandenburger Tor, wo Politiker vor 10.000 Menschen ihre Solidarität mit Israel bekunden. Ich lese die Nachrichten meiner Tochter, die sie mir aus Wien schickt und die dieselben Leerstellen umkreisen.
Und ich weine wieder und wieder Tränen, von denen niemand weiß, aber jetzt doch Du.
Und ich muss daran denken, was Du über Tautropfen geschrieben hast und was aus ihnen zu werden vermag. Vielleicht schmilzt ja auch mit unseren Tränen eine Teilnahmslosigkeit ab und setzt etwas in Fluss, in Gang. (Ein sehr leises Vielleicht ist das.)
Weißt Du, wir haben ein praktisches Leben: die Dinge, die wir tun, die Berufe und Beziehungen, denen wir nachgehen und unsere Orte, an denen wir uns einrichten. Mein praktisches Leben ist dicht und vielgestaltig, aber es lebt sich wie ein chemischer Prozess, der, einmal durch eine starke Willensreaktion in Gang gesetzt, sich nun nach mir fremden Gesetzmäßigkeiten abspielt.
Wir haben auch jenes Leben, das Du im Grunde des Herzens verortest. Dort können wir jene Heimat schaffen, von der Du schreibst, sie ließe sich überall in die Welt hinein fortschreiben, der wir entgegendenken, -schreiben und, ja, -fühlen können.
Am Morgen des 3. Oktober habe ich, kurz vor meiner Abfahrt, das Grab meiner Mutter auf dem Friedhof im Kölner Norden besucht. Ich habe mit meinem Lippenstift ein Herz auf ihren Grabstein gemalt und sie gefragt, ob sie mir etwas sagen möchte. Ihre Antwort erfolgte prompt.
„Fühle die Welt”, sagte sie mir.
Deine
Heike