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Wofür wir uns schämen sollten – Brief 2

Naeema Ghani an Heike-Melba Fendel, Berlin, 21. September 2023

Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak aus dem Paschto

© Naeema Ghani

 

Liebe Heike!

Ich schicke Dir liebe Grüße. Deinen Brief habe ich mit Freude gelesen, vielen Dank!

In den sozialen Medien habe ich vom Erscheinen Deines neuen Buches erfahren, aber mein Deutsch ist nicht gut genug, um es lesen zu können. Deshalb habe ich die Lektüre erst einmal aufgeschoben.

Du schreibst, dass auch Du eine Geschichte über die Sehnsucht geschrieben hast, eine Geschichte darüber, dass niemand gezwungen sein sollte, die eigene Sehnsucht für andere aufzugeben, und dass andere sich wegen unserer Sehnsucht nicht zu schämen brauchen. Du hast die Fremdscham erwähnt und geschrieben, dass sich einige Menschen für etwas Besseres halten und denken, andere seien nicht gut genug oder nicht so gut wie sie selbst, und dass sie sich für andere schämen. Ich denke, dass diese Scham dem Egoismus der Menschen entspringt.

Es ist so, dass in meinem Herzen eine große Kraft steckt. Wenn wir uns ein Herz fassen und die eigene Verantwortung wahrnehmen, dann lernen wir viele neue Dinge kennen. Wir sind gezwungen, nachzudenken und eigene Antworten auf Fragen zu finden, die wir uns selbst stellen: „Was denke ich?“, „Was sagt mein Gewissen dazu?“, „Was ist meine Verantwortung?“, „Wo sind meine Grenzen?“ Doch wenn wir die Kraft unseres Herzens für Alleinansprüche einsetzen, dann bringen wir immer nur neue Alleinansprüche hervor, wie Du es in Deinem Brief beschreibst: „Das ist meine Liege“, „Ich bin dran“, „Das ist mein Platz“.

Und dann gibt es noch eine andere Art von Alleinansprüchen: wenn sich jemand anmaßt, anderen gegenüber im Recht zu sein, und denkt, alles besser zu wissen. Wenn jemand glaubt, immer Recht zu haben und alles besser zu wissen als die anderen, dann entsteht in diesem Menschen das Gefühl, sich für die Handlungen anderer schämen zu müssen.

Ja, wir können nicht leugnen, dass manches Vermächtnis der Menschheit ein gemeinsames Erbe darstellt, auf das man stolz sein kann. Andererseits gibt es Handlungen, für die sich alle Menschen schämen sollten, aber diese Scham endet dort, wo wir Menschen ins Verderben bringen und das auch noch verteidigen. Wenn die Menschen den Stolz auf gemeinsame Errungenschaften teilen, dann müssen sie auch die Scham teilen, wenn sie etwas getan haben, wofür man sich schämen muss. Ein Beispiel: Kein Mensch kann für sich in Anspruch nehmen, als Erster das Feuer bezwungen und genutzt oder als Erster Werkzeuge aus Eisen und Holz hergestellt zu haben, denn wir wissen, dass es unsere Vorfahren waren, die Vorfahren der heutigen Menschen. Wenn wir in gleicher Weise über Kriege, Hass und Ungerechtigkeit nachdenken, dann verstehen wir sie als unsere gemeinsame Schande. Alle Menschen tragen dazu bei, all dies hervorzubringen und es zu fördern. Deshalb kommt allen Menschen die Scham dafür in gleicher Weise zu – und sie müssen sie teilen.

Leider vergessen wir Menschen diese grundlegenden Dinge allzu oft. Dann schämen wir uns für Dinge, die für den einen günstig sind und dabei einem anderen schaden, oder dafür, wie jemand sich anzieht.

Ich denke, dass das Leben äußerst ermüdend und langweilig wäre, wenn alle Menschen im gegenseitigen Wohlgefallen leben würden. Wenn ich nicht die Macht habe, in meinem Leben Entscheidungen zu treffen, wie kann ich dann jeden Moment meines Lebens genießen, auch wenn er vielleicht gerade nicht der aufregendste ist? Die Menschheit leidet unter verschiedenen Problemen wie Hunger, Krieg, Krankheiten, dem Klimawandel und dadurch ausgelösten Katastrophen, unter verschmutzter Umwelt, wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit. Wenn wir uns vor Scham in wehleidigen Kreisen verschanzen, wird sich die Welt auch für die anderen in eine Hölle verwandeln. Kurz gesagt, ich schäme mich nicht für die Farben in der Welt. Ich habe vielmehr Angst, dass unsere Welt irgendwann nur noch grau sein wird.

Aber zum Glück bietet mir die Welt genug Gründe, um diese Angst zu überwinden, so wie Du es auch tust, die Du in diesem Teil der Welt lebst und anders denkst.

Liebe Heike, es macht mich froh, Deinen Brief zu lesen. Es ist beruhigend zu wissen, dass es Menschen gibt, die ihr Bestes geben, um diese wehleidigen Kreise aufzubrechen, die anderen zeigen wollen, dass es auf dieser Welt Millionen Menschen gibt, die nicht so denken wie wir, die nicht so gut mit der Welt und ihren vielen Farben vertraut sind, die vielleicht in fernen Bergen und Wäldern leben, die ihre eigenen Überzeugungen und Interessen haben und deren Existenz keinem schadet. Diese Menschen wissen nichts von den vielen Farben der Welt, sie stellen in der Vielfalt der Farben selbst eine Farbe dar. Sie schämen sich nicht für andere und haben kein Problem mit dem, was andere tun. Es ist gut, diesen Menschen ihre Farbe zu lassen, damit sie darin leben können. Ihre Handlungen beschämen niemanden und sie machen die Welt für Dich und mich bunter und schöner.

Liebe Heike! Du kennst Dich in Deinem Land aus und ich habe Erinnerungen an mein Land. Wenn in meinem Land die rote Sonne aufgeht, schmilzt der gefrorene Schnee auf den Gipfeln der hohen Berge. Tropfenweise fällt er von den Felsen herab. Einige Tropfen haben Glück und verbinden sich zu einer Quelle und finden so ihren Weg zu großen Flüssen. Einige Tropfen sind nicht so geschickt und versickern irgendwo im Boden, wo sie einer durstigen Pflanze oder einer Blume Lebenskraft spenden. Es ist nicht wichtig, welcher Tropfen wohin gelangt. Wichtig ist, dass jeder einzelne Tropfen seine Verantwortung kennt und seiner Verantwortung nachkommen möchte.

Es geht nicht nur um Dich und mich. Meiner Meinung nach müssen auch andere Alleinansprüche allmählich beendet werden. Solche Egoismen müssen, wie Du sagst, aufgegeben werden. Statt dass man für sich selbst irgendwo Plätze reserviert und Besitzansprüche erhebt, ist es besser, jenen unermüdlichen Menschen, die sich für die Gleichberechtigung aller einsetzen, die Schweißtropfen von der Stirn zu wischen. Der Gedanke, diese Art von selbstbezogener Scham loszuwerden, ist Teil einer Strömung, die in jedem Winkel der Welt zu spüren ist. Wenn ich davon höre, freue ich mich darauf, mich diesem Strom wie ein kleiner Tropfen anzuschließen und ein Teil von ihm zu werden.

Auch ich glaube, dass jeder eine andere Sicht auf „Heimat“ hat. Es ist so, als würde man sich selbst auf einem Gruppenfoto betrachten: Wenn wir Menschen uns in jedem Winkel des großen Bilderrahmens dieser Welt glücklich und aufgehoben fühlen, dann werden wir zweifellos keine Heimatlosigkeit mehr verspüren.

Mit meinen besten Wünschen,

Naeema

 

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Heike-Melba Fendel an Naeema Ghani: Du hast eine Erzählung über rote Stiefel geschrieben und was sie für ein Mädchen bedeuteten, die kaum etwas so sehr haben wollte wie diese Stiefel. Die roten Stiefel waren ihr zu klein und schmerzten das Mädchen beim Tragen. LesenText im Original

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