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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Naeema Ghani & Heike-Melba Fendel > Ich habe Kriege und alles, was Kriegen den Weg bereitet, so satt - Brief 4

Ich habe Kriege und alles, was Kriegen den Weg bereitet, so satt – Brief 4

Naeema Ghani an Heike-Melba Fendel, Berlin, 22. Dezember 2023

Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak aus dem Paschto

Ich schicke Dir ein Foto, mit Stickereien aus der Zeit meiner Mutter, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. © Naeema Ghani

 

Hallo, liebe Heike!

Danke, dass Du Dir die Zeit genommen und mir einen zweiten Brief geschrieben hast. Ich hatte auf diesen Brief gewartet, denn wir östlichen Frauen müssen oft unser Herz ausschütten.

Du hast über Stolz und Scham geschrieben. Aus der Gesellschaft, aus der ich stamme, sind mir diese Begriffe gut vertraut. Unser Stolz und unsere Ehre sind mit Familien, Verwandtschaftsgruppen, Stämmen und sogar mit Herkunftsgegenden verbunden. Wir sind sehr stolz auf die Taten von Menschen, die wir nicht kennen, und wir müssen uns für die Taten von Menschen schämen, die wir nicht kennen. Wenn wir von Stolz oder Scham sprechen, gibt uns dies oft die Gelegenheit, vor unseren eigenen Sünden zu fliehen. Manchmal hält es uns auch davon ab, die eigene Schönheit zu sehen. Wenn wir unsere Kinder zur Schule schicken, sagen wir ihnen, dass sie uns stolz machen und uns keine Schande bereiten sollen. Wie angsteinflößend die Wörter „Stolz“ und „Scham“ sind, das kann nur ein Kind spüren, dem neben der schweren Last der Schultasche auch die der Verantwortung für diese beiden Kategorien aufgebürdet wird, die es mit sich herumschleppen muss.

Ich stimme Dir darin zu, dass die Konzepte von Scham und Stolz zugleich wertvoll und zerstörerisch sind. Würde ich sagen, dass diese Vorstellungen in einer Gesellschaft leicht zum Verschwinden zu bringen sind, dann wäre das bestimmt eine Übertreibung. Ich kann aber auf jeden Fall festhalten, dass man sehr vorsichtig damit umgehen muss.

Liebe Heike! Du hast geschrieben, wie hart es für Dich war, Dich für eine von zwei Städten zu entscheiden, und dass es dann auch nicht leicht war, alles zurückzulassen. Ich reise nicht weit. Vor einigen Monaten habe ich eine Geschichte über meine Reise geschrieben und ich werde diese Reise ein weiteres Mal beweinen, ohne mich dafür entschieden zu haben: Weinen und Schwermut kann man nicht kontrollieren. Ich sehe, dass viele Menschen gezwungen sind, über Nacht alles aufzugeben und wegzugehen. Diese Art von Umzug hat tiefgreifende Auswirkungen auf die menschliche Seele. Nur Menschen, die eine solche Situation erlebt haben, können das beschreiben. Ja, wie jeder Aspekt des menschlichen Lebens kann eine Reise, wie Du schreibst, auch etwas sehr Aufregendes sein und sie kann manchmal, wie Du bemerkst, viel Stress mit sich bringen. Besonders dann, wenn es sich nicht um eine angenehme und erlebnisreiche Reise handelt, sondern um eine Flucht, zu der es keine Alternative gibt.

Die Menschen in Kriegsgesellschaften haben sich an das ständige Umziehen und ihre Wanderungen gewöhnt. Sie sind ein Teil ihres Lebens geworden, auch wenn ihnen das nicht gefällt.

In diesem Zusammenhang berichte ich gern von den Erinnerungen meiner Großmutter. Sie hat erzählt, dass ihr Haus vor hundert Jahren, als in Afghanistan Kriege herrschten, an einer Straße lag, auf der immer wieder Krieger vorbeizogen, Menschen töteten und vieles zerstörten. Mehrmals im Jahr, so erzählte meine Großmutter, sei sie mit ihrer Familie aus Angst vor den Kämpfen aus der Ebene in die Berge gezogen, um dort ihr Lager aufzuschlagen.

Und sie erzählte, dass andere Leute oft beobachteten, wie sie und ihre Familie mit beladenen Kamelen durch das Dorf zogen. Frauen und Kinder sahen das und riefen einander zu: „Kommt, da findet wieder ein Umzug der groß gewachsenen Frau statt.“

Wenn ich jetzt an diese Erinnerung zurückdenke, sage ich mir, dass diese großgewachsene Frau aus der Geschichte zu einem Symbol geworden ist. Über Generationen hinweg finden solche Wanderungen statt und die Geschichte wiederholt sich auf traurige Weise. Nach meiner Großmutter bei meiner Mutter, dann bei mir und danach vielleicht auch bei den künftigen Generationen.

Beim ersten Mal war ich noch ein kleines Kind. Wir flohen vor dem Krieg und zogen von der Stadt aufs Land. Ich, meine Mutter und meine Schwestern, wir alle haben viel geweint. Sogar mein Vater weinte. Danach habe ich beschlossen, nicht mehr zu weinen, wenn ich wieder irgendwo anders hinziehen muss. Doch das war ein auf Eis geschriebener Brief, der bei Sonnenaufgang dahinschmilzt: Als ich das letzte Mal aus Afghanistan weggehen musste, weinte ich wieder viele Nächte lang. Vielleicht geht es bei diesem Weinen um ein Ende. Vielleicht ist es die letzte Trauerzeremonie für etwas, das vergangen ist. Vielleicht geht es bei diesem Weinen aber auch um den Anfang von etwas Neuem, so wie ein Kind schreit, wenn es zum ersten Mal seine Augen öffnet und eine neue Welt willkommen heißt. Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich sagen: Wir überlassen es der Zeit, dies zu klären.

Ich finde es interessant, dass wir beide uns diese Briefe aus Berlin schreiben, wo wir die Last der Trennung in Form einer langen Mauer in unserer Brust spürten. Wir werden davon noch viele Geschichten erzählen, die die Menschen zu Tränen und Gefühlen rühren oder zu noch viel mehr führen werden. Aber vielleicht werden diese Geschichten auch gar nicht geschrieben. Eine Trennung ist immer schmerzhaft, sei es die Trennung zweier Menschen, das Verlassen einer Stadt oder die Trennung auf einem Friedhof, wenn man am Grab Abschied nimmt. Die Gräber meiner Mutter, meines Vaters und meines Bruders befinden sich in einer Region, in der Krieg herrschte, und ich habe sie seit vielen Jahren nicht gesehen. Doch es gibt Leute, denen geht es damit noch schlechter als mir, denn sie wissen nicht einmal, wo ihre Liebsten begraben sind. Allein gehen sie auf den großen Friedhof einer Stadt, um die Gräber zu finden. Das alles ist furchtbar, es wurde hervorgebracht von einem zerstörerischen Konzept, vom Krieg. Krieg beendet das Leben und auf der anderen Seite davon gibt es gar nichts. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich habe Kriege und alles, was Kriegen den Weg bereitet, so satt.

Zum Abschluss sage ich: Ja, die Welt hat durch ihre Kinder sehr gelitten und sie leidet Tag für Tag. Ich hoffe, dass friedliebende Menschen aufwachen, die Welt spüren und nicht zulassen, dass sie noch mehr leidet. Auch Deine Hände nehme ich in meine Hände und ich spüre Deine Einsamkeit in Berlin und Deine Zeilen in ihrer ganzen Bedeutung.

Voller Sympathie

Naeema

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