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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Masoma Kawsary & Heike Geißler > Wie Ungeheuer haben sie jedes Mal meine Träume zerstört - Brief 1

Wie Ungeheuer haben sie jedes Mal meine Träume zerstört – Brief 1

Masoma Kawsary an Heike Geißler, Stockholm, 18. Juli 2023

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Persischen

© privat

Hallo, liebe Heike,

als ich in unseren Briefwechsel eingewilligt habe, hatte ich keine Vorstellung davon, welch schwierige Aufgabe es ist, den ersten Brief zu schreiben. Einen Brief zu schreiben, fällt mir eigentlich nicht schwer, denn ich habe schon immer Briefe geschrieben an Leute, die ich kenne, aus einem bestimmten Anlass. Dieses Mal muss ich jedoch einen anderen Brief schreiben. Adressiert an eine Person, die ich nicht kenne und die ich noch nie aus der Nähe gesehen habe. Abgesehen von Deiner Stimme, die ich ein paar Minuten gehört habe, als Weiter Schreiben uns per Audiocall vorstellte, habe ich keine Vorstellung von Dir. Und selbst in diesen paar Minuten habe ich nicht verstanden, was Du gesagt hast. Als ich jedoch verstanden habe, dass Du Deutsche bist, nahm ich an, dass Du wohl so ähnlich wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sein müsstest. Das freundliche Gesicht einer hart arbeitenden Frau, die in den Augen der Asylsuchenden ein Sinnbild der Menschlichkeit ist und vielleicht allen Frauen ähnelt, die in der freien Welt leben, studieren, politisch aktiv sind, ehrgeizige Ziele verfolgen und diese oft auch erreichen. Frauen, die die Möglichkeit haben, sich zu verlieben und wenn sie mit Untreue konfrontiert sind, diese nicht ertragen müssen. Ohne dass sie Angst vor Einsamkeit oder Obdachlosigkeit haben müssten, treffen sie Entscheidungen für ihr Leben, stehen wieder auf und beginnen von vorn.

Du hast mich auch noch nicht gesehen. Als Du erfahren hast, dass ich Afghanin bin, hast Du vielleicht auch eine Vorstellung von mir entwickelt, die einzig auf den Bildern basiert, die Du von afghanischen Frauen in den Medien gesehen hast. Vielleicht hast Du Dir mich unter einem blauen Tschador am Straßenrand sitzend und auf Hilfe hoffend vorgestellt oder auf der Flucht auf einer Schmugglerroute oder als Tote auf dem Meeresgrund oder manchmal auch mit müdem und enttäuschtem Gesichtsausdruck im Sonnenuntergang eines entlegenen Lagers, das zufällig von einem Fotografen aufgenommen und dadurch berühmt wurde. Oder ich erinnere Dich an Meldungen über Steinigungen oder andere Berichte über Frauen, die jeden Tag unter irgendeinem Vorwand getötet werden.

Kurz gesagt, ich bin alle Bilder, die sich Dir möglicherweise eingeprägt haben.

Doch wie auch immer die Bilder aussehen: Ich bin aus der Mitte jener Frauen hervorgegangen. Ich bin eine der wenigen Frauen, die es geschafft haben, sich aus dem Strudel herauszuziehen. Ja, ich habe mich herausgezogen. Wie Wasser, dem kein Stein den Weg versperren kann, habe ich mich durch nichts aufhalten lassen.

Liebe Heike, in meinem ersten Brief an Dich wollte ich über Schönheit schreiben und unsere Bekanntschaft mit schönen Worten einleiten. Aber ehrlich gesagt, ist in den Erinnerungen meiner neunundvierzig Lebensjahre keine einzige schöne Szene enthalten, von der ich Dir heute erzählen könnte. Ich habe in einer Hemisphäre gelebt, die, obwohl die Sonne hell darauf scheint, immerzu dunkel ist. An einem Ort, in dessen freundlicher Natur ein Menschenschlag lebt, von dem ich nicht weiß, was ihn zähmen könnte und ihn lehren, zumindest vernünftig zu denken. Mein Volk glaubt, dass der Mensch aus Staub erschaffen wurde. Ich weiß nicht, an welcher wertvollen Substanz es den Bewohnern dieses Landes, dessen Boden voller wertvoller Substanzen ist, mangelt oder fehlt. Vielleicht gibt es auch einen Überschuss an einer Substanz in ihnen, die sie so irrational und tyrannisch sein lässt – sogar jenen gegenüber, aus deren Schößen sie geboren wurden und von denen sie Laufen und Sprechen gelernt haben.

Liebe Heike, meine Welt ist Jahrhunderte von Deiner Welt entfernt und ich bin mir sicher, dass ich niemals eine Ebene erreichen werde, auf der ich ein gemeinsames Thema für unseren Briefwechsel finden könnte. Schließlich lebst Du in einem Land, das sich mit der Entdeckung und Erforschung von Elementarteilchen beschäftigt und über die Besiedlung des Weltraums nachdenkt. Ich jedoch lebe an einem Ort, an dem die einzige Sorge der Männer meine Existenz und meine Anwesenheit ist; an dem Männer ausschließlich damit befasst sind, wie sie Frauen möglichst zu Hause einsperren können. Ganz so, als gäbe es in diesem Land kein wichtigeres Problem als die Existenz von Frauen. Während die Männer Deines Landes damit beschäftigt sind, neue Medikamente zur Heilung von Krankheiten zu entwickeln, sind die Männer meines Landes damit beschäftigt, Frauen so umfassend wie möglich zu verhüllen, weil sie sogar das Geräusch ihrer Füße als sexuell stimulierend erachten.

Ich lese jeden Tag über die Fortschritte Deines Landes. Du jedoch liest jeden Tag von den Rückschritten meines Landes zu abergläubischen Praktiken vorislamischer Zeiten, als Mädchen (in arabischen Ländern) nach der Geburt lebendig begraben wurden. Du liest, dass Frauen nicht mehr studieren dürfen und dass ihnen das Recht auf Arbeit verwehrt wird. Du liest, dass eine Frau nur noch in Begleitung ihres Vaters, ihres Bruders, ihres Ehemannes oder ihres Sohnes aus dem Haus gehen darf, selbst wenn es um Leben oder Tod geht. Sie sind wie Gefängniswärter, die den legalen Namen des „Mahram[1]“ angenommen haben und die sogar in den eigenen vier Wänden wie ein vieräugiger Schatten über sie wachen. Ich aber lese, dass die Männer Deines Landes darüber nachdenken, in den Weltraum zu fliegen und die Zeit zu beschleunigen. Sie denken darüber nach, wie man den Tod der Menschen aufhalten kann, und sogar darüber, Roboter in sämtlichen Lebensbereichen einzusetzen. Du aber liest jeden Tag, dass die Männer meines Landes eine neue Entscheidung getroffen haben, wie sie mich aus dem Sichtfeld schaffen können. Angesichts dessen bin ich sicher, Du wirst mir nachsehen, dass ich nicht von schönen Dingen schreiben und kein gemeinsames Thema für diesen Brief finden kann.

In jedem Moment und bis in die tiefsten Schichten meiner Existenz habe ich Unwissenheit und Vorurteile erlebt, dennoch bin ich nie verzweifelt. Jedes Mal, wenn die Blindheit verflogen war, richtete ich mich auf und versuchte, auf die Zukunft zu hoffen, aber erneut versperrte dieses kranke Denken meinen Weg und schloss mich in den vier Wänden ein, die ich einst für mein Zuhause gehalten habe und in denen ich zu leben versuchte. Wie Ungeheuer haben sie jedes Mal meine Träume zerstört, trunken auf meinen Ruinen getanzt und sich selbst eine Ehrenmedaille überreicht.

Während ich Dir diesen Brief schreibe, gibt es keinen Moment, in dem mich die quälenden Bilder dieser Szenen loslassen, obwohl ich inzwischen meilenweit von ihnen und diesem Ort entfernt bin. Wie könnte ich das alles vergessen, während meine Freundinnen und Bekannten sowie andere unterdrückte und schutzlose Frauen immer noch in ihren Fängen sind und ich nichts anderes tun kann, als mir Sorgen zu machen?

Ich kann keinem ausländischen Politiker sagen, dass er seine nationalen Interessen zugunsten des afghanischen Volkes zurückstellen und nicht zulassen soll, dass eine Gruppe Tyrannen die Träume einer Nation zerstört. Nun, ich weiß, es gibt niemanden auf der Welt, der nichts über Afghanistan weiß, aber wie soll ich es sagen? Wenn Ihr an uns vorbeigeht, schaut bitte nicht weg!

Liebe Heike, vielleicht sind die Dinge, die ich Dir geschrieben habe, langweilig oder meine Erinnerungen bereiten Dir Unbehagen. Aber das ist die Welt einer Frau aus einem von Kriegen geplagten Land. Einer Person, die nie gesehen hat, welche Farben das Leben hätte, wenn Männer und Frauen gleichgestellt wären, die nie den Geschmack der Liebe gekostet hat und die nicht weiß, wie es sich anfühlt, überhaupt nur an ihr Potenzial zu glauben.

Liebe Heike, vielleicht ist es besser, Deine Zeit nicht länger zu beanspruchen. Ich hoffe, mit diesem Brief einen Weg gefunden zu haben, wie wir das Gespräch fortsetzen können. Einen Weg, der beweisen könnte, dass wir trotz aller Unterschiede doch Gemeinsamkeiten haben können.

Mit vielen Grüßen

Masoma

 

[1] Männlicher Verwandter, mit dem eine Eheschließung nach islamischem Recht ausgeschlossen ist. Eine Frau in Afghanistan darf nur in Begleitung eines solchen Mahram das Haus verlassen.

* Dieser Brief erschien vorab am 26.08.2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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