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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Masoma Kawsary & Heike Geißler > Jeder Satz ist ein aktives Terrain - Brief 2

Jeder Satz ist ein aktives Terrain – Brief 2

Heike Geißler an Masoma Kawsary, Leipzig, 09. August 2023

Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persische

 

© Heike Geißler

Liebe Masoma Kawsary, liebe Masoma,

ich wundere mich, wie vertraut ich mich Dir bei aller faktischen Unbekanntheit fühle. Aber allein diese Handlung, mich an den Schreibtisch zu setzen und Dir zu schreiben, meinen Brief auf Deinen folgen zu lassen, ist eine Handlung der Nähe, ist eine Annäherung, die schon deshalb nicht bei null beginnt, weil wir beide demselben Vorschlag zugestimmt haben: einen kleinen Briefwechsel miteinander zu haben.

Dein Brief hat mich sehr berührt, mehr als ich anfangs zulassen wollte. Ich habe mich beim ersten Lesen reflexhaft gut geschützt, habe mich abgeschirmt vor Deinen Worten; verzeih, das war ein Automatismus. Jetzt aber habe ich Deinen Brief erneut gelesen. Ich habe mich Deinen Worten geöffnet, den Umständen, die Du beschreibst, die ich in ihrer Komplexität wohl allesamt nicht kenne. Weißt Du, ich finde keine Worte dafür, dass Deine 49 Lebensjahre keine einzige schöne Szene enthalten, von der du mir erzählen könntest. Ich denke (und fürchte), das ist es, was ich mir veranschaulichen und was ich verstehen muss, um Dich besser zu kennen. Es ist auf jeden Fall ein Satz, den ich mit mir nehme, den ich nicht vergessen werde. Gewissermaßen liegt er auf meinem Tisch, und ich betrachte ihn von allen Seiten, versuche zu ermessen, was genau er ist, was er bedeutet. Der Satz ist gewaltig. Aber ehrlich gesagt, ist in den Erinnerungen meiner neunundvierzig Lebensjahre keine einzige schöne Szene enthalten, von der ich Dir heute erzählen könnte. Wäre Dein Satz ein Objekt, bräche mein Tisch unter ihm zusammen. Danach bräche unter meinem Tisch der Boden, woraufhin ich mit Satz und Tisch zu den Nachbarn unter mir durchbräche und immer so weiter. Ja, immer so weiter. Bricht nicht eigentlich die Welt unter einem solchen Satz zusammen? (Sie tut es, aber wir alle geben uns Mühe, diesen Umstand zu verschleiern.)

Du schreibst: Wenn Ihr an uns vorbeigeht, schaut bitte nicht weg.

Ich will Dir über das Hinsehen und bedauerlicherweise wohl eher über das Wegsehen schreiben, aber lass mich zuerst kurz erzählen, wie Dein Brief mich auch zum Lachen brachte: Du erwähnst Angela Merkel, und ich weiß nicht genau, wie es passierte – vielleicht liegt es an meiner wilden Phantasie oder an der Uhrzeit (es ist tief in der Nacht) – ich sah mich vorhin, als ich diesen Brief begann, plötzlich als Angela Merkel an meinem Schreibtisch sitzen, auf die leere Seite eines neuen Dokuments schauen. Ihr Kopf auf meinem Körper. Ich schob die Vorstellung beiseite, die mich zugleich irritierte und amüsierte. Ich habe vermutlich nicht so viel mit ihr gemein. Ich bin beispielsweise nicht sachlich oder diplomatisch. Ich war und bin keine Freundin ihrer Partei. Du schreibst, sie stelle in den Augen der Asylsuchenden die Menschlichkeit dar, und ja, ich verstehe, was Du meinst, aber ich will nicht ausblenden, dass ich auch um die weniger schöne Bilder erzeugende Migrationspolitik, die sie als Bundeskanzlerin verantwortete, weiß, um die präzisen Bestrebungen, Migrationsbewegungen zu regulieren, um die Verträge, die geschlossen wurden, um die vor Kriegen, Terror, Verfolgung, Naturkatastrophen, Armut und aus vielen anderen Gründen fliehenden Menschen unter Kontrolle zu bringen. Und das heißt eben vor allem: Menschen, die nicht vorwiegend weiß und eher mit der christlichen als mit anderen Glaubensrichtungen vertraut sind, von Europa fernzuhalten. Eine solche Politik ist destruktiv, ist tödlich.

Ich habe Deinen Brief natürlich genau gelesen und verstehe, dass du Angela Merkel auch und vielleicht vor allem deshalb erwähnst, weil ihr Leben und ihre Karriere etwas darüber aussagen, was Frauen möglich ist, was Frauen möglich sein sollte. Was allen Frauen möglich sein sollte.

Liebe Masoma, Dein Brief ist mir wichtig.

Beim Lesen Deiner Zeilen sehe ich Dich in einem hell eingerichteten schwedischen Haus. Ich sehe Dich unkonkret-konkret an einem Tisch aus Birkenholz sitzen, die Wände sind weiß gestrichen, durch das Fenster dringt gleißendes Licht. Diese Vorstellung beruht wohl allein auf dem Umstand, dass ich gelesen habe, dass Du jetzt in Stockholm lebst und darauf, dass ich noch nie in Schweden war. (Und darauf, dass ich Deinen Namen bis gerade eben, da ich meine Zeilen zur Korrektur lese, nicht gegoogelt habe, also kein Foto von Dir kannte.)

Die gängigen Bilder und Vorstellungen von Afghanistan, von afghanischen Frauen, die Du in Deinem Brief nennst, bringe ich jedenfalls nicht mit Dir in Verbindung. Sie zu lesen aber ist eine Kur, eine energische und zwangsläufig brutale Kur, bringt sie mich doch dazu zu bemerken, dass ich weggesehen und ignoriert habe. Ich habe vor zwei Jahren (und nicht zum ersten Mal) aufgehört, in die Welt zu schauen, habe mich verschlossen, abgedichtet gegen Eindrücke. Ich habe mich wie Europa verhalten, das sich zur Festung macht. Anders als Europa, als die EU, habe ich nicht nationalistische, politisch-konservative, rassistische, glaubensbasierte Gründe für die Abschottung. Ich habe weggeschaut, weil ich nicht mehr hinschauen konnte.

Es ist mir in Anbetracht Deines Briefes peinlich das zu schreiben, aber es war so: Das Hinsehen war zu schmerzhaft. Es tat zu weh, die Bilder aus Afghanistan zu sehen.

Jener eine Moment von vielen Momenten vor zwei Jahren, der mich jetzt noch zum Weinen bringt, den ich nicht verkraften konnte und irgendwie auch nicht und nie verkraften können will, mit dem ich mich nicht einrichten will, an den ich mich auch nicht als historischen Umstand erinnern will, den ich stattdessen ignorieren und vor allem ungeschehen machen will: Als die Studentinnen die Universitäten verlassen mussten.

Ich sah die Bilder in den Nachrichten. Ich sah die Studentinnen aus den Hörsälen gehen, sah sie in Solidarität von Studenten gerahmt. Mehr wollte ich nicht sehen.

Ich habe, das muss ich also gestehen, den Blick von Deinem Land abgewendet. (Und dann sogleich den Blick von allen schrecklichen Umständen abgewendet.) Ich habe aufgehört hinzuschauen. Dabei glaube ich zutiefst daran, dass man hinschauen muss, dass man sich nicht verschließen darf, vor niemandes Leid, vor niemandes Strudel, vor niemandes Abgrund und Qual. Ich glaube, dass wir uns das alle miteinander schuldig sind. Das Hinsehen ist die Voraussetzung für Solidarität und Liebe. Sich nicht zu verschließen ist unbedingt notwendig. Das schreibe ich weniger Dir als mir. Du weißt das sowieso.

Während ich Dir schreibe, ist es spät geworden. Als ich begann, als ich noch mit dem Gesicht der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin an meinem Rechner saß, spielte in meiner Nachbarschaft jemand Over the Rainbow auf dem Saxophon. Diese Person spielt das jeden Sommer. Ich mochte dieses Lied noch nie sonderlich, aber ich mag, dass jemand etwas jeden Sommer tut, etwas, das kein Interesse an Zerstörung hat. Das ist nicht selbstverständlich.

Und weißt Du, während des Lesens Deines Briefes kam es mir so vor, als wären meine schlechten Erfahrungen, und ich meine jetzt nur jene Erfahrungen, die ich allein deshalb machen musste, weil ich eine Frau bin, vergleichsweise gar nicht so schlimm. Aber in diese Falle will ich nicht gehen. Dies ist ein Briefwechsel in Zeiten, in denen alles zeitgleich möglich und zugegen ist: Fortschrittlichkeit, Forschung und Unterdrückung, weibliche CEOs, männliche Hybris und verzweifelte Degradierungswut, Wertschätzung und Missbrauch, Achtsamkeit und Krieg. Wir sind einander schreibende Frauen. So sehr ich mir wünsche, unser Geschlecht würde keinerlei Rolle spielen und schon gar keinen Nachteil bedeuten, kann ich nicht ignorieren, dass wir beide, wie viele (wie vielleicht nahezu alle) Frauen der Welt, andere Erfahrungen gemacht haben. Konkurrierten wir um Heftigkeit und Wirkung der Erfahrungen, würde ich Dir unterliegen. Aber wir konkurrieren nicht. Unsere Erfahrungen sind unterschiedliche Teile einer schrecklichen Summe.

Ich habe so viele Fragen an Dich, liebe Masoma. Dein Brief ist vielleicht wie eine Website, die ich zögerlich und voller Skrupel betrachte. Sie ist reichhaltig, ergreift, beteiligt und fordert mich. Jeder Satz verweist auf mehr, verweist auf eine mir unvertraute und letztendlich nicht vorstellbare Welt. Jeder Satz ist ein aktives Terrain. Jeder Satz ist ein Link zu einem weiteren Text, einem weiteren Kapitel, einem weiteren Brief. Ich habe Angst vor Deinen Erfahrungen. Aber alles will ich wissen.

Sag mir, liebe Masoma, wenn Du magst: Wie warst Du Wasser, dem kein Stein den Weg versperren kann? Wie konntest du das werden, wie konntest du das sein?

Ich danke Dir (und warte auf Post).

Heike

* Dieser Brief erschien am 26.08.2023 vorab in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen ist eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben

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