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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Masoma Kawsary & Heike Geißler > Glücklich diejenigen, die den Himmel von einem guten Ort aus betrachten können - Brief 3

Glücklich diejenigen, die den Himmel von einem guten Ort aus betrachten können – Brief 3

Masoma Kawsary an Heike Geißler, Stockholm, Schweden, 17. September 2023

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Dari-Persischen

Vielmehr warf ich sogar den einzigen Brief, den ich je von einem Verehrer erhalten habe, aus Angst vor Entdeckung ins Ofenfeuer, ohne ihn gelesen zu haben. © Masoma Kawsary

Hallo, liebe Heike,

mit Freude habe ich Deinen Brief gelesen und noch mehr gefreut hat es mich, dass Du schreibst, dass mein Brief etwas in Dir angesprochen hat. Ich möchte diesen mit den letzten Worten Deines Briefes beginnen, die mir deutlich im Gedächtnis geblieben sind. Du hattest geschrieben: „…(und warte auf Post)“. Ich hoffe, diese Wendung wurde richtig übersetzt und Du dachtest dabei an jene Person, die die Briefe an die Haustüren bringt – natürlich die handschriftlichen, auf weißem Papier geschriebenen, manchmal mit Blumenornamenten am Rand. Jetzt gibt es immer noch Postboten, aber sie unterscheiden sich von den früheren: Sie bringen meist offizielle Schreiben, manchmal auch ein Paket aus weiter Ferne. In der heutigen Zeit brauchen die Menschen weniger Postboten, das Internet übernimmt jetzt deren Aufgabe. Vor dreißig Jahren hingegen, als es zumindest in meiner Heimatregion noch kein Internet, keine Computer, Telefone oder Ähnliches gab, war der Postbote die einzige Person, die die Gefühle weit voneinander entfernt lebender Menschen zusammenbringen konnte.

Deine Worte versetzten mich zurück in die Zeit, als ich eine Jugendliche und das Lesen meine große Leidenschaft war. Nachdem ich damals den Roman Daddy Langbein von Jean Webster gelesen hatte, wünschte ich mir, genau wie die Protagonistin Judy einen Förderer zu haben, der mir regelmäßig Briefe schicken würde. Besonders, da auch ich unter finanziellen Problemen litt! So wie Judy war ich ebenfalls dünn und über die Dächer der Häuser zu laufen war meine Lieblingsbeschäftigung. Die Vorstellung, einen Brief zu erhalten, löste in mir herzerwärmende Gefühle aus. Als ich später Briefe tatsächlich erhielt, löste das jedoch nicht die angenehmen Gefühle aus, die ich mir erträumt hatte. Vielmehr warf ich sogar den einzigen Brief, den ich je von einem Verehrer erhalten habe, aus Angst vor Entdeckung ins Ofenfeuer, ohne ihn gelesen zu haben. Es war Winter und Feuer ist das beste Mittel zur Vernichtung von Beweisen für ein Verbrechen, das in meinem Land sogar heute noch mit schweren Strafen wie etwa Steinigung geahndet werden kann. Nach all den Jahren denke ich noch immer daran, so wie auch heute Abend. Ach, hätte ich den Brief doch nur gelesen!

Ich freue mich, dass die Lektüre meines Briefes Dich zum Lachen gebracht hat, und noch mehr freut es mich, dass einige meiner Sätze Dich in das Reich der Fantasie entführen konnten. Ich denke, ein Brief, der die Lesenden in ein paar kurzen Zeilen mit manchmal widersprüchlichen Gefühlen fesseln kann, müsste doch interessant sein!

Aber ein solcher Brief kann nicht wie eine fiktive Geschichte wirken. Meiner Meinung nach sind Briefe eines der wenigen schriftlichen Zeugnisse, die verlässliche Dokumente für die Nachwelt darstellen können. Deshalb versuche ich beim Briefeschreiben nicht, meine Fantasie walten zu lassen, sondern bemühe mich vor allem, Ereignisse niederzuschreiben, die für Lesende in aller Welt und zu allen Zeiten lehrreich sein können – lehrreich in mehrerlei Hinsicht. Ein anderer Grund dafür, dass ich keine fiktiven Geschichten schreibe, ist, dass uns im realen Leben so viele seltsame Ereignisse begegnen, dass für Ausgedachtes gar kein Raum mehr bleibt.

Liebe Heike, Du hast über die Schwere meines Satzes „In den Erinnerungen meiner 49 Lebensjahre ist keine einzige schöne Szene enthalten, von der ich Dir heute erzählen könnte“ geschrieben und darüber, welchen Schaden dieser Satz womöglich anrichten könnte, wenn er eine Sache wäre. Ich bin froh, dass unsere Gefühle keine materielle Substanz haben. Denn stell Dir nur mal vor: Wenn während der Millionen Jahre menschlichen Lebens auf dieser Erde unsere Worte, Gefühle und Schmerzen Dinge gewesen wären, wäre das Leben auf der Erde niemals bis an den Punkt gekommen, an dem Du und ich heute gezwungen sind, dieses Zeitalter mit all seinem Schmerz erleben zu müssen. Viel früher schon, vielleicht, als die Kinder Adams sich zum ersten Mal gegenseitig malträtierten und einander töteten, hätte die Schwere des Kummers über diese Tyrannei nicht zugelassen, dass die Welt bis heute in dieser Form weiterexistiert. Dass Du so aufrichtig schreibst: „Ich habe vor zwei Jahren (und nicht zum ersten Mal) aufgehört, in die Welt zu schauen, habe mich verschlossen, abgedichtet gegen Eindrücke“, macht mir nichts aus. Du und alle anderen Menschen haben das Recht zu entscheiden, was sie sehen wollen und was nicht, was für sie bedeutsam ist und was nicht. Aber sei andererseits bitte nicht verstimmt über meinen Satz: „Wenn Ihr an uns vorbeigeht, schaut bitte nicht weg.“

Wir sind in der Situation eines Ertrinkenden, der weiß, dass er nichts mehr tun kann und sein Ende naht, und der in seiner ohnmächtigen Verzweiflung noch einen letzten Schrei ausstößt, obgleich er weiß, dass niemand ihn hören oder sehen wird. Wir wissen, dass die Politik gnadenlos ist, dass sie einen manchmal zwingt, sich gegenüber dem Zweckmäßigen taub und blind zu stellen. Noch besteht Hoffnung, dass die Menschheit der Politik die Macht noch nicht voll und ganz überlassen hat.

Heute ist Sonntag, und es war vereinbart, dass ich Dir heute meinen Brief schicke, aber leider habe ich es nicht geschafft, ihn rechtzeitig fertigzustellen. In den vergangenen zwei Wochen habe ich Deinen Brief mehrmals gelesen. Deine Sätze waren manchmal etwas schwierig für mich. Vielleicht lag es ganz allgemein an Übersetzungsproblemen, vielleicht auch am Text selbst. Jedenfalls konnte ich den Antwortbrief erst schreiben, nachdem sich bei mir das entsprechende Gefühl eingestellt hatte. In den letzten Stunden des Sonntags beschloss ich schließlich, mich hinzusetzen und meine Antwort zu formulieren. Wie Du schon vermutet hast, geschieht dies in einem hellen Zimmer mit weißlicher Tapete, nicht ganz weiß, eher stahlfarben, an einem weißen Schreibtisch und mit dem Laptop, nicht mit Stift und Papier. Stockholm ist eine wunderschöne Stadt mit fleißigen, hart arbeitenden Menschen und sie spiegelt deren Anstrengungen wider. Ich finde die Stadt unendlich schön. Wenn ich manchmal aus dem Fenster in den Himmel schaue, erinnere ich mich an die Worte meiner Schwester, die wehmütig sagte: „Weißt du, Masoma! Menschen aus allen möglichen Teilen der Welt können diesen Himmel sehen. Er breitet sich sowohl über Afghanistan als auch über andere Länder. Glücklich diejenigen, die ihn von guten Orten aus beobachten können!“ Meine Schwester ist nicht mehr da, sie ist seit Jahren selbst im Himmel. Ich aber kann den Himmel, den ich in den schwarzen Tagen der Verzweiflung und unter dem Schatten der Taliban-Herrschaft gesehen habe, auch an diesem Punkt der Welt und nun in bester Verfassung betrachten und meiner Schwester sagen, dass ich es endlich geschafft habe, ihn von einem freien Land aus zu beobachten, von einem Ort aus, an dem alles einen Wert hat: Menschen, Pflanzen, Tiere. Kurz gesagt, jedem Element der Schöpfung begegnen Menschen hier mit Achtung vor dessen Würde, nichts kann Diskriminierung hervorrufen, alles wird unabhängig von seiner Form, Farbe und seinem Zustand respektiert und geachtet. Auch wenn diese Erfahrung nur kurz währen sollte und ich diese schöne Stadt eines Tages aufgrund ihrer Einwanderungspolitik wieder verlassen muss, so ist es doch in jedem Fall etwas so Beeindruckendes, dass ich es niemals vergessen werde.

Liebe Heike, im vorigen Brief hatte ich Dir geschrieben: „Wie Wasser, dem kein Stein den Weg versperren kann, habe ich mich durch nichts aufhalten lassen.“ Und Du hast mich darum gebeten, Dir auf Deine Fragen zu antworten: „Wie warst Du Wasser, dem kein Stein den Weg versperren kann? Wie konntest Du das werden, wie konntest Du das sein?“

Meiner Auffassung nach reagieren die Menschen auf Veränderungen im Leben unterschiedlich. Probleme zerstören uns manchmal – manche bringen uns um, andere veranlassen uns dazu, zumindest über sie nachzudenken. Manchmal aber machen sie uns auch widerstandsfähig. Nicht alle von uns reagieren in gleicher Weise etwa auf einen Krieg oder auf persönliche Probleme. Durch das Erleben beider Arten von Schwierigkeiten, mit denen ich sowohl in der Gesellschaft als auch in der Familie zu kämpfen hatte, habe ich gelernt, dass ich mich manchmal wie ein Wasserstrahl schmal machen muss, um die schwierigen Engpässe des Lebens durchqueren zu können. Manchmal wartete ich wie Wasser, das einen Stein erreicht und dort eine Weile verharrt, auf das Ende der Probleme, mit denen ich konfrontiert wurde. Natürlich nicht in dem Sinne, dass ich dasaß und gar nichts tat, sondern ich versuchte wie das Wasser eine Öffnung zu finden, um meinen Weg fortzusetzen. Sollte ich einmal keinen solchen Durchlass entdecken, muss ich eine Wolke werden und an einem besseren Ort als Regen niedergehen.

Ich habe mir selbst beigebracht, dass ich angesichts aller Lebensprobleme nicht nur über einen Lösungsweg nachdenken sollte, sondern dass ich, um zu überleben und eine Situation zu verbessern, stets bereit sein sollte, mich dem Schlimmsten zu stellen. Jetzt, da ich mit dem Schlimmsten konfrontiert bin, überlege ich, was wohl das Beste wäre, das ich tun könnte.

Manchmal lag ich auch, wie wohl jeder Mensch, aus Verzweiflung die ganze Nacht lang wach und weinte bis zum Morgen wegen meiner Ohnmacht. Aber wenn ich morgens aufstand, erwachte etwas Neues in mir zum Leben, eine neue Hoffnung oder eine neue Möglichkeit.

Als ich auf die Welt kam, hat mich niemand gefragt, ob ich mit diesen oder jenen Eigenschaften irgendwo anders hingehen möchte. Niemand hat mir die Erlaubnis gegeben oder gesagt, dass ich mir meine Familie, mein Geschlecht und meinen Geburtsort aussuchen kann. Aber jetzt, da ich nun mal da bin, kann und muss ich selbst entscheiden, so zu leben, wie ich denke und nicht so, wie andere denken. Natürlich ist diese Anforderung in meinem Land nicht leicht umzusetzen, besonders nicht für Frauen.

Zum Schluss, liebe Heike, schreibe auch ich nun, dass ich auf den Postboten warten werde! Ich hoffe, obwohl ich nicht mehr danach strebe oder davon träume, Jerusha Abbott zu werden, und obwohl Du nicht Jervis Pendleton bist, auf diese Weise das schöne Gefühl aus meiner Jugendzeit, zumindest für ein paar Minuten noch einmal erleben zu können.

Herzlich

Masoma Kawsary

* Dieser Brief erschien vorab am 11.11.2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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