Was macht schreibende Frauen so gefährlich? – Brief 1
Daniela Dröscher an Freshta Ghani (Pseudonym), 14. Juni 2021
Übersetzung: Ibrahim Hotak
Liebe Freshta,
wo also fange ich an? Vielleicht bei den Briefen, von denen Du am Telefon erzählt und die Du als Jugendliche immer so sehnsüchtig erwartet hast. Magst Du vielleicht noch einmal erklären, was es damit auf sich hat?
Wir haben uns ja schon kurz über den Brief als literarische Form ausgetauscht. Briefeschreiben, das ist etwas so herrlich Altmodisches finde ich. Mich erinnert es an meine Grundschulzeit,. Obwohl wir uns jeden Tag in der Schule gesehen haben, schrieben meine Freundin und ich einander täglich Briefe. Um sie zu übergeben, klingelten wir an der Haustür der anderen. In Berlin habe ich nur noch eine einzige Freundin, die spontan bei mir läutet. Wenn ich dann sage, es passt jetzt leider nicht, reagiert sie gelassen. Sie schreibt und sie ist Mutter wie ich, und deshalb weiß sie, dass ich eigentlich nie Zeit habe.
Ich habe im Vorfeld überlegt: Was könnte für Dich wichtig sein, von mir zu erfahren? Und dachte dann: Vielleicht tatsächlich zunächst einmal, dass ich Kinder habe. Zwei Kinder, mein Sohn ist vierzehn, meine Tochter elf. Wichtig erscheint mir auch der Ort, von dem aus ich Dir schreibe. Ich meine nicht nur die groben Koordinaten (Berlin/Deutschland), sondern den konkreten Raum. Unsere Mietwohnung befindet sich im Dachgeschoss, das Haus steht in einer belebten Straße, aber ich sehe durch die Dachfenster nichts von den Menschen dort draußen, ich sehe „nur“ den Himmel. Ich schreibe abwechselnd am Küchentisch, in einem der Kinderzimmer (wenn sie gerade leer sind), in einem alten Ledersessel in einer Ecke des Wohnzimmers, im Frühjahr und Sommer gehe ich hinauf auf das Dach.
In einem Videoporträt von Dir sagst Du, dass Du mit Blick auf die Berge am Iskanderkul schreibst. Und auch, dass Deine ersten Texte im Büro entstanden sind, erwähnst Du in dem Film.
Es fasziniert mich immer, wie jemand zur Schriftstellerin wird. Du spricht von der spirituellen Verbindung, die Du schon seit jeher zum Schreiben und zu Büchern verspürt hast. Und dass Deine Familie diesen Berufswunsch anfänglich nicht unterstützen wollte.
Wie ist das heute, frage ich mich: Was denken Deine Eltern über das, was Du tust? (Ich finde es sehr intim, jemanden nach seiner Familie zu fragen. Nach den Eltern, Geschwistern … Sehr oft ist die Antwort mit Schmerz oder Verlust oder auch nur einem Gefühl der Scham und Entfremdung verbunden. Aber vielleicht magst Du mir ja etwas über sie erzählen …?)
Meine Mutter hat mich immer ermutigt auf meinem Weg. Mein Vater steht dem Schreiben bis heute skeptisch gegenüber. Ich glaube, für ihn ist es kein richtiger Beruf. Und vielleicht stimmt das auch. Ist Schreiben eine Arbeit wie jede andere auch oder ist es ein Luxus? Das frage ich mich oft. Ich bin der erste Mensch mit Abitur in meiner Familie. Die Mutter meines Vaters – eine Kleinbäuerin – war noch Analphabetin, und in den seltenen Momenten, in denen sie umständlich und mit konzentriertem Blick ihre Unterschrift zu Papier bringen musste, hat sie vor uns Kindern immer gescherzt: „Pst! Seid still! Oma muss sich konzentrieren. Oma schreibt ihren Namen.“
Wenn ich schreibe, ist mir überaus bewusst, dass ich die erste in der Familie bin, die Zugang zu einer höherer Bildung hatte. Bis heute sind Frauen auf der ganzen Welt von dieser ausgeschlossen. Man verweist sie in die Sphäre der Care- und Hausarbeit.
Deine Kurzgeschichte „Die achte Tochter“ erzählt von einer Hausfrau und Mutter. Von der Mühsal, die diese tägliche Arbeit bedeutet. Ich mochte sehr, wie Deine Erzählerin ihre Wut an den zu waschenden Spinatblättern auslässt. Sie, die gerade mit ihrem achten Kind schwanger ist, fürchtet, dass sie nur wieder „nur“ eine Tochter zur Welt bringen könnte. Mehr noch als Wut über dieses „nur“ verspürt sie Angst.
In Kunar, wo Du aufgewachsen bist, dürfen viele Mädchen noch immer nicht schreiben, sagst Du. Was, glaubst Du, macht gerade schreibende Frauen so gefährlich?
Ich glaube, dass eine Frau, die schreibt, das Patriarchat gleich doppelt bedroht. Sie vereint die Kraft der künstlerischen Produktion und die der Reproduktion. Das ist zu gewaltig. Es sprengt die patriarchale Ökonomie, die von Frauen ein Entweder/Oder fordert.
Es ist schon seltsam. Außerhalb der Kunst repräsentiere ich als Mutter die Norm, innerhalb der Kunst bin ich eine Ausnahme. Lange Zeit habe ich mich deshalb wie ein Ufo oder Alien gefühlt. Heute umarme ich die Tatsache, dass ich anders schreibe als jemand ohne Kinder. Ich habe meine eigenen Arbeitsrhythmen, meine eigenen Formen. Ich habe aufgehört, mich in dieser oder anderer Hinsicht als defizitär zu empfinden.
Müttern wird in den verschiedensten Gesellschaften eine so enorme Bedeutung für das Kindeswohl auferlegt, dass sie eigentlich nur scheitern können. Ein berühmter Mann hat einmal gesagt: „Es ist die Aufgabe der Mütter dieser Welt, ihre Kinder zum Frieden zu erziehen.“ Ich glaube, dass das stimmt und auch nicht stimmt. Eine Mutter allein reicht nicht. Es braucht ein ganzes Dorf. Väter. Freund*innen. Die richtigen Vorbilder.
Hast Du ein literarisches Vorbild? Falls ja, verrätst Du es mir? Eines meiner Vorbilder ist Virginia Woolf, eine britische Autorin, die im London des 20. Jahrhundert gelebt hat. Von ihr stammt der Satz: „Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte.“
Erst letztens fiel mir auf, dass ich meine Tochter bei ihrer Geburt gleich doppelt mit dem Frieden betraut habe. Sie heißt Frida (was tatsächlich von dem althochdeutschen Wort für Frieden kommt), ihr Zweitname ist Paloma (also „Taube“, auf Spanisch). „Ich bin eine Friedenstaube“, sagt sie manchmal und klingt dabei verwundert bis skeptisch. Wer will schon als Friedenstaube durch die Welt laufen …? Und weil ich mit den Gedanken schon oben in der Luft bin: Virginia Woolf soll die Briefe an ihre Kolleg*innen (angeblich) häufig mit folgender Wendung unterschrieben haben:
„From butterfly to butterfly / Von Schmetterling zu Schmetterling“
Daniela
Übersetzt ins Paschto
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