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Jede Gewalt sucht das Schweigen – Brief 3

Daniela Dröscher an Freshta Ghani (Pseudonym), 06. November 2021

Übersetzung: Ibrahim Hotak

„Der Berliner Winter dauert meist lange und ist sehr kalt. Aber die Sonne kommt dennoch verlässlich hervor.“ © Daniela Dröscher

 

Liebe Freshta,

wie schön ist es, dass wir unser Gespräch wiederaufnehmen können!  Ich habe so oft an Dich gedacht. Und doch konnte ich Dir nicht schreiben. Zu viele Gefühle waren in mir. Und gleichzeitig eine große Unsicherheit … aber ich will versuchen, den Faden wieder aufzunehmen.

Zwischen Deinem letzten Brief und meinem jetzigen ist Schreckliches geschehen. Der Tod so vieler Menschen trennt die Zeit in ein „Davor“ und ein „Danach“. Keine noch so mutigen Mütter, keine Gedichte und schon gar keine Friedenstauben, über die wir uns „davor“ in unseren Briefen ausgetauscht haben, konnten das verhindern. So viele Versuche, zu helfen, waren vergeblich. Aber was heißt vergeblich? Nichts, was man nicht unversucht lässt, ist vergeblich. Daran muss ich glauben, merke ich.

Bei den bedrohten Journalistinnen, mit denen ich in Kontakt war, habe ich – bei aller Angst – einen unbedingten Glauben an das Leben verspürt. Mich beeindruckt der Mut und die Zuversicht dieser Frauen. Mut ist ein sogenanntes „Meta-Gefühl“, habe ich neulich gelernt. Ein Gefühl ohne Emotion. Und ja, vielleicht stimmt das. Wenn ich mutig bin, habe ich einen klaren Weg vor Augen. Ich gebe Gefühlen, die mich von meinem Weg abhalten wollen, nicht allzu viel Raum. Mut bändigt Gefühle, die nicht hilfreich sind.

Ich scheue mich, Dich zu sehr über das Tagesgeschehen auszufragen. Vielleicht ist es gerade gut, den Raum dieses Briefes mit etwas anderem zu füllen? Ich weiß es nicht. Jede Gewalt sucht das Schweigen, sagt man, und das Schreiben – so sehr es von Ruhe und Stille lebt – versucht ja gerade, die Gewalt in Worte zu fassen. Sie zu bannen.

Also. Ich will versuchen, für die Dauer dieses Briefes anzuknüpfen an die Zeit „davor“.

Dein Brief hat mich so sehr berührt! Habe ich Dir erzählt, dass meine Tochter ihn gelesen hat? Sie war ein wenig stolz darauf, dass sie darin vorkommt, und auch dass Du ihren Namen magst, hat ihr gefallen. Sie hat gesagt, wie auffallend schön sie Deine Sprache findet. Und ja, mir geht es ebenso … und etwas am Ton Deines Briefes hat mich tief berührt.

Ich will Dir danken dafür, dass Du so offen von Deinen Eltern erzählst. Nun habe ich ein ungefähres Bild der beiden Menschen, mit denen Du groß geworden bist. Dass sie nicht mehr am Leben sind, tut mir sehr leid. Du vermisst sie sicher sehr. Es ist seltsam, nicht wahr? Man vermisst und liebt seinen Vater, auch wenn er für all das steht, was man bekämpft.

Was Du von Deiner Mutter erzählst, beeindruckt mich sehr. Von ihrer Tätigkeit in der Fabrik, der Hausarbeit. Auch wie sie sich für Dich eingesetzt hat, gegen den Willen Deines Vaters. Meine Mutter hat auch immer versucht, mich zu ermutigen. Auch was das Schreiben betrifft. So viele Väter versuchen noch immer, ihren Töchtern das Schreiben zu verbieten. Manchmal denke ich, auch in freieren Ländern sitzt Frauen noch immer das von der Väterherrschaft verhängte Schreibverbot in den Knochen.

So früh hast Du angefangen, Gedichte zu schreiben! Und Deine erste Kurzgeschichte! „Blut“. Was für ein Titel! Ich kenne keine Geschichte, die so heißt. Hast Du sie aufbewahrt?

Und es ist für mich so spannend, dass Du Oriana Fallaci erwähnst. Ich hatte, bis ich Deinen Brief las, länger nicht mehr an sie gedacht. In Europa war sie sehr umstritten, durch ihre Äußerungen zu den Anschlägen vom 11. September. Sie hat darin den Islam mit Islamismus gleichgesetzt. Aber ja, sie hatte ein unglaubliches Talent dafür, Männern unbequeme Fragen zu stellen. So viele namhafte Politiker haben sich von ihr zum Interview bitten lassen. Sogar Diktatoren wie Muammar al-Gaddafi und Ayatollah Khomeini. Und was haben diese Männer ihre scharfe Zunge gefürchtet!

Ich habe gelesen, dass Fallaci in einer Familie von Antifaschisten aufgewachsen ist. Insbesondere die Mutter soll eine mutige Frau gewesen sein. In einem Artikel wird Oriana Fallaci als eine „zerbrechliche Löwin“ bezeichnet. Ich mag dieses Bild. Meine Mutter ist im Sternzeichen des Löwen geboren; und ja, sie ist definitiv eine Löwin. Das Patriarchat hat sie gebrochen, es hat sie verletzt, aber nicht zerstört. Das ist ein großer Unterschied.

Du hast in Deinem letzten Brief die Briefe erwähnt, die Du nie abgeschickt hast. Den Brief an Deinen Vater zum Beispiel. Oder auch den Brief an Deine Freundin. Gibt es auch einen Brief an Deine Mutter – darf ich das fragen? Was würdest du ihr schreiben?

Ich habe seit einiger Zeit die Fantasie, zusammen mit anderen Schriftstellerinnen, Briefe an die Frauen unter den Mächtigen zu schreiben. Poetische Briefe. Ich glaube, Schriftsteller*innen können Sprache so verwenden, dass Mächtige wieder zuhören. Wirklich zuhören.

Wie erreicht man das Herz von mächtigen Frauen? Was würdest Du beispielsweise den Frauen im deutschen Außenministerium schreiben?

Du bist oft einsam, sagst Du. Und dass Dein Laptop Dein Freund in der Einsamkeit ist. Das ist so ein schönes Bild. Schreibst Du gerade an etwas? Hast Du genügend innere und äußere Ruhe? (Oder auch nur die richtige Musik im Ohr?)

Wann immer ich merke, dass ich nicht schreiben kann, gehe ich spazieren oder sehe mir Ausstellungen an.

Es gibt eine Berliner Künstlerin, Moshtari Hilal, die als Kind mit ihrer Familie aus Afghanistan emigriert ist. Sie hat ein beeindruckendes Netzwerk von & für Künstler*innen mit Afghanistan-Bezug ins Leben gerufen: Es heißt AVAH: https://avah.info. Eines meiner liebsten Bilder von Moshtari ist „Eine Berührung in Kleidern“. (https://www.moshtari.de/selected-work-1/)

Es war glaube ich, in ihrer Ausstellung The warm pillow was my mother. The blanket my father“ zu sehen.

„Wo lebt die Frau am glücklichsten?“, hast Du gefragt? Ich weiß es nicht.

Ob wir uns einmal wahrhaftig begegnen werden? Ich wünsche es mir. Sehr!

Ich lerne so viel durch den Austausch mit Dir. Dafür bin ich dankbar. Ich will noch so viel mehr über Dich und Dein Land erfahren. Noch mehr lesen, mehr verstehen.

In Berlin ist es schon sehr kalt. Mein Gefühl sagt mir: Bald fällt der erste Schnee. Er liegt schon in der Luft. Der Berliner Winter dauert meist lange und ist sehr kalt. Aber die Sonne kommt dennoch verlässlich hervor. Nicht jeden Tag, nicht jede Stunde. Aber doch immer wieder.

Ich grüße dich herzlich und kann es kaum erwarten, von dir zu hören.

Daniela

 

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Untold – Weiter Schreiben Afghanistan, ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben.
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Ich liebe die Herbstblätter nicht mehr - Brief 4

Hier ist es kalt geworden. Der Herbst hat alle Blätter von den Bäumen gefegt. Ich denke, der Herbst geht mit Hoffnungslosigkeit einher. Dabei haben mir die gelben Blätter dieser Jahreszeit immer gefallen. Ich mochte diese Blätter, denn sie tanzen, obwohl sie wissen, dass es die letzten Tage ihres Lebens sind. Sie tanzen mit den Füßen einer jeden Person, die vorübergeht. LesenText im Original

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