Ein Sarg für vier Personen
Es gibt Geschichten, bei denen der allwissende Erzähler auf den Kloß im eigenen Hals aufpassen muss. Dass seine Tränen die Zeilen nicht durchtränken. Als Allwissender muss er einfach die Zähne zusammenbeißen, stark sein und erzählen.
Aghil beugte sich hinab und drückte die letzte Zigarette auf dem hervorstehenden Muttermal aus, das die Frau auf der Wange hatte. „Sag ihnen, sie können kommen und sie zusammenkratzen!“, sagte er dem hageren Soldaten, der vor der Tür stand und zitterte.
Der allwissende Erzähler bewegt sich auf das Gesicht der Frau zu, das von Blut und zerzausten Haaren bedeckt ist, aber er kann nicht erzählen. Er entfernt sich aus der Satzmitte, verlässt die Zeile, um aus der Seite zu springen, aber die scharfen Papierränder verwunden ihn und lassen ihn nicht raus. Und so kehrt er müde und verletzt zurück, um weiter zu erzählen. Er zieht über Aghils müdes Gesicht hinweg und dessen dunkle Lippen, über den zerdrückten Zigarettenfilter und die letzten orangefarbenen Glutpartikel, die von der Wange der Frau hinabbröseln und zu Boden fallen, zieht an der Frau vorbei und bleibt vor dem Soldaten stehen, der nervös und ängstlich hinter seinem Ohr herumfummelt; als wollte er die noch nicht lange geschlossene Wunde dort wieder aufkratzen.
Der Soldat heißt Ali. Die Kinder aus seinem Viertel rufen ihn „Lady Ali“, weil er zarte Hände hat und gerne Maler wäre. Der allwissende Erzähler beginnt mit der genähten Stelle hinter Alis Ohr; sie ist das Andenken einer heißen, sommerlichen Mittagsstunde im Garten. Dem werten Herrn Vater und dessen Schlachtermesser zu verdanken. Die Nachbarn hatten Ali und sein halbes Ohr aus dem Griff des Herrn Vater gerettet und sie mit bloßen Händen in die Klinik getragen. Dann hatten sie Mutter Mehri mit Zuckerwasser wieder zur Besinnung gebracht und dem Herrn Vater gesagt, er solle sich zusammenreißen und seine Hände nicht mit dem Blut seines einzigen Sohnes besudeln. Und der Herr Vater hatte das Messer an seiner Schürze abgestreift und sich gefügt. Später, am Nachmittag desselben Tages, als Alis Ohr bereits mit klobigen, ungleichmäßigen Stichen wieder an seinem Platz festgenäht worden war, holten der Herr Vater und Mutter Mehri sämtliche Bilder, die Ali gemalt hatte, aus dem Dachgeschoss herunter und übergossen sie im Innenhof mit Benzin. Innerhalb weniger Minuten fingen die nackten, zwischen Sonnenblumen gebetteten Frauen Feuer und verbrannten. Darauf folgten Kopfrasur und Militärdienst, der Schwur, ein ganzer Mensch, ein richtiger Mann zu werden, und Mama Mehris Bitten an Verwandte und Freunde, falls sie Kontakte hätten, doch dabei zu helfen, Ali für seinen Dienst bei der Verkehrspolizei oder auf irgendeiner Stelle, wo er lediglich Büroarbeiten zu machen hätte, unterzubringen. Aber als die Ausbildung zu Ende war, schickten sie Ali zu einer Polizeistation in einer kleinen, weit entfernten Stadt.
Von Alis zarten Händen aus, die sich nach Pinseln und Farben sehnen und die jetzt, ganz feucht von Schweiß, zu zittern begonnen haben, nicht wissend, was sie tun sollen, zieht der allwissende Erzähler weiter und bleibt auf Aghils Gesicht stehen. Aghil hat sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Beine auf dem Tisch ausgestreckt. Er ist hungrig und die Geräusche seines Magens grollen durch den Raum. Jetzt muss er sich erst mal dieser unangenehmen Angelegenheit entledigen, denkt er sich, dann würde er sein Trial-Motorrad nehmen und zur Fleischerei an der Landstraße fahren, um sich den Bauch vollzuschlagen und mal nach dem Rechten zu sehen. Aghil hat den Zitronensaft im Sinn, der über das Fleisch geträufelt wird, die Salzflocken und das elastische Gefühl zwischen den Zähnen, wenn man die Leber zerkaut, und ihm wird ganz weich ums Herz. Der allwissende Erzähler beginnt mit der vernarbten Stelle auf Aghils Stirn. Eine Narbe, die Aghil seit seinem siebten Lebensjahr hat und die, statt zu verblassen, jedes Jahr tiefer zu werden scheint und sich wie ein Schacht ohne Boden in Aghils Stirn eingegraben hat. Die Narbe ist ein Andenken an einen Mittag nach dem Gemeinschaftsgebet. Seyyed Razavi ist der neue Seminarist, den sie in der Moschee der Nachbarschaft zum Vorbeter ernannt haben. Er ist jung, trägt stets ein Lächeln auf den Lippen. Sein Gesicht unterscheidet sich von dem der Mullahs. Er wirkt frisch und reinlich und sein rotbrauner Bart ist gepflegt und gekämmt. Er trägt keinen Turban, noch lernt er an der Hawza.[1] Er war kaum angekommen, da hatten sich schon sämtliche Leute im Viertel in ihn verliebt und so, wie ihre Augen ihm vertrauten, so vertrauten auch sie ihm. An Babas Hand kommt Aghil jeden Tag zum Gemeinschaftsgebet in die Moschee; gemeinsam vollziehen sie die rituellen Waschungen am Fuße des Beckens und Aghil gibt darauf acht, sein Gesicht korrekt und sorgfältig abzuwischen, wie Baba. Eines Tages sagt der Seyyed nach dem Gebet zu Aghils Baba, er denke, der Junge habe eine gute Untertonstimme und könnte einen fähigen Muezzin abgeben. Aghils Baba gibt bereitwillig und freudig sein Einverständnis, Aghil jeden Tag nach dem Gebet in der Moschee zu lassen, damit der Seyyed ihm beibringt, wie man Muezzin wird. Wie man die Wörter richtig betont. Dass man Allah immer mit langgezogenem A ausspricht. Wie er seine Worte richtig an- und ausklingen lässt und seine Allahu-Akbars auf die Geschwindigkeit des Vorbeters abstimmt. Und Aghil wiederholt alles, was der Seyyed sagt, und lernt, die arabischen Wörter richtig auszusprechen und wie er seiner kindlichen Stimme Ausdruck verleiht.
An dem besagten Tag behält Seyyed Razavi Aghil nach dem Gemeinschaftsgebet bei sich in der Moschee, wie gewohnt, damit sie zusammen üben. Zur Übung, sagt er zu Aghil, würden sie heute die Plätze tauschen. Aghil solle zum Beispiel den Imam in der Sadschda[2] spielen und der Seyyed den Muezzin. Aghil betritt den Mihrab und beugt sich in der Gebetsnische hinab, legt die Stirn auf den Gebetsstein und begibt sich in die Sadschda. Der Gebetsstein ist ein Quader, dessen Kanten gesprungen und scharf sind. „Allahu Akbar, Subhanallah, Gott ist groß, gepriesen sei Gott“, flüstert der Seyyed Aghil ins Ohr. Dann öffnet er seine Abaya, zieht Aghil unter den Stoff und legt die Hand auf seinen kleinen Mund. Von hier an nichts als Brennen, Blut und Druck. Mit verletzter Stirn kehrt Aghil nach Hause zurück. Die Tränen schluckt er runter, das Wasser, das ihm aus der Nase läuft, wischt er mit dem Ärmel weg. Er stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, mit seiner Hand an die Türglocke zu kommen, aber vor der Eingangstür verliert er das Bewusstsein und fällt zu Boden. Beim nächsten Mal und den Malen danach achtet der Seyyed darauf, Aghils Kopf gegen einen runden, intakten Gebetsstein zu drücken.
Der allwissende Erzähler kehrt von der Narbe auf Aghils Stirn zurück in das graue Zimmer der Untersuchungshaft. Er wendet den Blick von der Frau ab, wandelt verloren auf den Wänden umher und beginnt belanglose Details zu erzählen, um sich von der Frau abzulenken. Starrt zum Beispiel das verfärbte Teeglas auf dem Tisch an, in dem eine kleine Fliege zappelt und sich abmüht zu überleben, oder das Fenster, das einst auf den kleinen Pfad hinausging, an dessen Ende sich die Polizeistation befindet, und jetzt nurmehr auf eine Backsteinmauer. Er stiert die Papierschnipsel auf dem Boden an; anscheinend ein zerrissenes Foto. Dann bleibt sein Blick an der kleinen Tasche der Frau hängen, die auf den Boden gefallen ist. Es gibt kein Entkommen. Er kehrt zu der Frau zurück, auf den Boden des kleinen Verhörzimmers. Sieben Stunden vorher ist Parvaneh noch eine junge Frau, auf dem Rückweg vom Gynäkologen. Eine junge Frau, die gleich nach dem Verlassen der Arztpraxis das Gefühl hat, sie sei nicht mehr derselbe Mensch, dass sie stärker geworden sei. Eine junge Frau, deren Lächeln nicht für einen einzigen Moment von ihren Lippen weicht und die die Papiere in ihren Händen am liebsten der ganzen Stadt zeigen und mit allen Leuten vor Freude tanzen würde. Eine junge Frau, die, auf der Suche nach einem Taxi, auf die Demonstrationen aufmerksam und einige Minuten später zu der ersten Frau wird, die ihr Kopftuch abnimmt und es in das Feuer wirft, das sie auf dem zentralen Platz ihrer kleinen Stadt entfacht haben. Der Beginn dieser Geschichte hat sie zu einem Leib werden lassen, den die Schläge eines Knüppels zerbeult haben, als man sie Aghil überließ, damit dieser einen Menschen aus ihr mache; zu einem Gesicht, verborgen unter Blut. Zu Papierfetzen auf dem Boden des Verhörzimmers. Zu einer Erzählung, die an ihr Ende kam, noch bevor sie begann. Sie fand ihr Ende, als Parvaneh in ein Auto sprang, um zu fliehen, und man sie an den Füßen packte und in den Polizeivan schleifte. Der allwissende Erzähler späht in Parvanehs Tasche. Seine Tränen, die er bereits über die vorangegangenen Seiten und Sätze vergossen hat, tropfen auch in den abschließenden Absatz. Der allwissende Erzähler sieht, dass Parvaneh zu einer unvollendeten Nachricht auf einem Handy geworden ist, die ihren Ehemann nie erreichte. Er kehrt zu den Papierfetzen auf dem Boden zurück. Es sind Parvanehs Ultraschallbilder, die sie behutsam in ihr Krankenkassenheft gelegt hatte, damit sie nicht beschädigt werden. Ein Foto, das nie zu einer Akte hinzugefügt werden wird.
Die Geschichte ist aus. Es ist keiner mehr da, der sie weitererzählen könnte. Der sagen könnte, wer kommen wird, um Pavaneh „zusammenzukratzen“. Der sagen könnte, wie es kommt, dass eine Frau, die auf dem Hauptplatz der Stadt ihr Kopftuch abgenommen und Slogans gerufen hat, plötzlich in einer abgelegenen Polizeistation an der Landstraße auftaucht. Der sagen könnte, ob und wie ihr Ehemann, nachdem er die Leichenhalle und die Untersuchungshaftanstalt ihrer Kleinstadt und die der umliegenden Städte abgesucht hat, irgendwann zu dieser abgelegenen Polizeistation kommen wird.
Die Geschichte endete mit dem Tod. Ali starb in dem Moment, als seine Mutter die verbrannten Sonnenblumen seiner Bilder mit dem Wasserschlauch vom Boden des Innenhofs spülte; Aghil starb mit sieben Jahren, während der Sadschda in der Gebetsnische, und Parvaneh in dem kleinen, grauen Verhörzimmer einer Polizeistation an der Landstraße. Von hier an versinkt die Geschichte in vollkommene Dunkelheit, denn der allwissende Erzähler ist entweder tot oder er sitzt in einer Ecke und weint und klagt hemmungslos.
[1] Hawzas sind theologische Hochschulen, an denen schiitische Geistliche ausgebildet werden. [A. d. Ü].
[2] Bezeichnung einer der Haltungen des muslimischen Gebets. Es handelt sich um eine tiefe Verbeugung, bei der sieben Körperteile den Boden berühren: der Kopf (Stirn und Nase), beide Hände, beide Knie und beide Füße.