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Die Tätowierung

Atefe Asadi
© Safya Bakhtyari, Ölkreide auf Papier, Die Tätowierung (2023)

Als ich den Waschlappen über die schlaffe, fleckige Haut an Herrn Esmailis Händen führte, zuckte plötzlich die alte Tätowierung auf seinem Arm und unter der faltigen Haut regte er sich: der krumme und schiefe, grünblaue Torso eines Soldaten, der ein Barett auf dem Kopf trug und seine G3 auf einen potenziellen Feind gerichtet hielt. Unter seinem unvollständigen Körper stand in einer eigentümlichen und unordentlichen Handschrift geschrieben: Dschihad auf dem Pfad Gottes. Während er sich dort, auf Herrn Esmailis Arm, so um sich selbst wand, gleich einer zuckenden und krampfenden Ader, und dabei die Wörter aus dem Satz unterhalb mit sich zog, robbte er wie ein Wurm in Richtung Schultergelenk, wo er über einen hervorstehenden Knochen und einige weiße, gekräuselte Haare auf der Schulter den Weg nach draußen fand und auf den Badezimmerfliesen haften blieb. Der Schriftzug Dschihad auf dem Pfad Gottes war in seine Glieder zerfallen und die Worte, die mit einem Schlag durch das Bad katapultiert worden waren, klebten jetzt an der Shampooflasche, an den Flügeln des Entlüfters, am Seifenhalter und sogar an dem gelben Hocker, auf dem Herr Esmaili saß und döste. Mein Blick kreiste umher auf der Suche nach Allah damit er, Gott bewahre, mir nicht aus Versehen unter die Hände und Füße geriete, als ich plötzlich sah, dass die Tätowierung angewachsen war, bis auf die Größe eines echten Mannes, der es sich auf den Badezimmerfliesen bequem gemacht hatte: ein echter Mann, bloß ohne Unterleib und Beine. Sieh, was du angerichtet hast, schalt ich mich innerlich. Das hat gerade noch gefehlt, dass am Ende deines Lebens ein fremder Mann im Badezimmer bei dir zu Hause auftaucht und deinen weißen Haarschopf zu sehen bekommt. Ich war gerade dabei, meine Hand an das Kopftuch zu führen, das mir zugeknotet um den Hals hing, mit der Absicht, es mir wieder über den Kopf zu ziehen, da fing der Mann in den Fliesen plötzlich an zu rufen:

„He da! He da! Nicht bewegen! Stillgestanden!“

Meine Hand erstarrte am Hals. Da fiel mir ein, dass ich auch die Hosenbeine hochgekrempelt hatte und meine Unterschenkel splitterfasernackt daraus hervorschauten, und ich verfluchte mich innerlich noch einmal. Dann sah ich, wie der verängstigte Ausdruck in den Tintenaugen des Soldaten unvermittelt in Wut umschlug. Er sah sich einmal um und richtete dann seine G3 auf mich und Herrn Esmaili, der aus seinem Nickerchen aufgeschreckt war und nun dieses lebendige grünblaue Wesen samt Waffe auf den Fliesen anstarrte. Ein Ruck ging durch den Soldaten und er schrie: „Oh Zahra, steh mir bei!“[1]

Herrn Esmailis knochiger Arm, den ich noch immer in meiner Hand hielt, begann zu zittern, genau wie das quadratische, dunstige Badezimmer um uns herum. Der unausgefüllte Umriss des Soldaten hatte sich unterdessen auf den Wandfliesen breitgemacht. Er presste sich im Liegen gegen das Magazin, zog am Verschlussstück und nahm die vergilbten Badfliesen unter Beschuss. Ich warf mich über Herrn Esmaili und versuchte seinen knochigen Körper so gut es ging unter meinem zu verbergen. Als die schnell aufeinanderfolgenden Schüsse verstummten, hob ich meinen Kopf langsam von Herrn Esmailis Gesicht und sah den Mann in den Fliesen an, der dabei war, an seinem Gewehr herumzuhantieren. Das Verschlussstück schien zu klemmen. Diese Dinge habe ich behalten, auch nach all den Jahren noch. Ich selbst hatte die Glaubensschwestern einmal darin unterrichtet und die Waffe war wie Wachs in meiner Hand gewesen. Aber wenn ich jetzt Herrn Esmailis wöchentliches Bad überdauern würde, dann würde ich Kunst machen. Auch die Kinder waren – Gott behüte sie! – überhaupt keine Hilfe.

Zu Zeiten, da sie ihm den Kehlkopf noch nicht entfernt hatten, hatte Herr Esmaili mir einmal inmitten eines Hustenanfalls und unter schwerem Keuchen erzählt, drei Tage vor seiner Einberufung sei es gewesen, dass er losgegangen war und man ihm dieses Tattoo gestochen hatte. Den Schmerz der feinen Nadeln mit goldener Endkappe, die ihm die zweifarbige chinesische Tinte unter die Haut führten, hatte er aus Liebe über sich ergehen lassen, damit ein schönes und einwandfreies Tattoo für ihn dabei herauskäme. Er erzählte mir, dass er das Tattoo kein einziges Mal bereut und sich nie dafür geschämt hatte, nur würde er, ließe sich die Zeit zurückdrehen, sich heute anstelle des Soldatentorsos lieber das Bildnis Khomeinis auf den Arm stechen lassen. Das hätte uns gerade noch gefehlt, dachte ich, dass statt dieses zweigeteilten Soldaten der hohe Herr höchstpersönlich in langer Robe und Turban auf unserer Badezimmerwand zum Leben erwacht und sein Blick auf die Beine und Füße und das weiße Haar einer anstandslosen Frau gefallen wäre. Astaghfirullah, möge Gott mir vergeben, bat ich innerlich und sah zu dem Soldaten hinüber. Er schien die Angelegenheit mit dem klemmenden Gewehr gelöst zu haben und bereitete sich gerade darauf vor, die Waffe unter „Oh Zahra“-Gebrüll wieder in die Luft zu reißen. Ich nahm ruhig die Hände hoch und sagte:

„Schau mal, mein Junge, wir haben uns keiner Sünde schuldig gemacht; auf wen schießt du da denn die ganze Zeit, Jungchen? Hadschi hier ist selbst Soldat. Sieh dir an, in was für einem Zustand er ist! Schau dir seine Kehle an. Wir sind keine Feinde. Hast du eine Ahnung, wie lang der Krieg schon vorbei ist?“

Seine Tintenaugen blinzelten müde auf den beschlagenen Kacheln und sein Blick war auf einen Punkt weit hinter den halbverfliesten Badezimmerwänden gerichtet. Ich sah zur gelben Shampooflasche, von der gerade die zwei Lettern F und I herabrutschten. Der Soldat legte seine Waffe auf einer der anderen Fliesen ab und begann, an seinen Händen herumzuspielen. So als rechnete er nach, ob zwischen dem Tag, als man ihn auf Herrn Esmailis jugendlichen, festen Arm gestochen hatte, und dem heutigen, an dem er der schlaffen und runzligen Haut eines alten Mannes entsprungen war, ein paar Jahre vergangen sein könnten. Ich schielte hinüber zum Entlüfter und sah, wie das Wort Dschihad anscheinend dabei war, sich in den Ablagerungen und dem Staub zwischen den Ventilatorenflügeln aufzulösen. Der Soldat hob den Kopf, nahm das Barett ab und legte es auf die andere Seite neben sich. Dann starrte er uns an und sein schmaler Mund zuckte in solcher Not, als läge ihm eine Frage direkt auf der Zungenspitze und er wüsste nicht, wie er sie stellen sollte. Seine Augen schauten jetzt wieder ängstlich und scheu drein. Ich führte meine Hand an den Hals, griff nach dem Kopftuch und zog es mir gleich über den Kopf; das war erleichternd. Ich schleppte mich hinter Herrn Esmailis Hocker und verbarg meine Beine hinter seinem Körper, damit sie nicht länger zu sehen waren. Wieder richtete der Soldat seine stecknadelkleinen Augen nach oben. Sein Blick bewegte sich hin und her, zwischen dem Loch in Herrn Esmailis Hals und dessen zitternden Lippen, in die Bewegung gekommen war. Ich übersetzte ihm die stummen Worte, die Herr Esmaili zu sagen versuchte:

„Er ist schon seit Jahren vorbei, seit sehr vielen Jahren.“

Der Soldat richtete sich auf und machte Anstalten zu gehen. Er raufte sich das wirre Haar und begann in den Fliesen der zwei intakt gebliebenen Badezimmerwände herumzuwirbeln. Er hatte keine Beine, aber man konnte sich seine wütenden und unkoordinierten Schritte vorstellen, die alle paar Sekunden innehielten, worauf ein kräftiger Tritt in die Zwischenfugen der Fliesen folgte, und dann von neuem losmarschierten. Der Soldat kam gegenüber dem Badregal zum Stehen und verpasste ihm von dort, wo er stand, einen unsichtbaren Tritt. Der Seifenhalter flog auf den Boden und die blassen Lettern des Wortes Pfad lösten sich im weißen Schaum der Seife auf und färbten ihn grünblau. Herr Esmaili richtete seinen krummen Rücken auf und lehnte sich an meinen Körper. Ich neigte den Kopf, um anhand des Röchelns aus seiner Kehle und der Bewegungen seiner Lippen zu erfahren, was er sagen wollte, und es dem Soldaten zu übersetzten.

„Er sagt, du sollst an deinen Platz zurückgehen und zur Ruhe kommen, da draußen ist es gefährlich für dich. Komm, mein Junge. Komm, liebes Kind.“

Und ich zeigte ihm auf Herrn Esmailis hagerem Arm den leeren Platz der Tätowierung, an dem jetzt Seifenschaum angetrocknet war. Dann machte er eine Drehung um sich selbst und rannte los zu der Fliese, auf der er seine Waffe abgelegt hatte. Ich griff hastig nach der Waschschüssel neben mir und während er seine Waffe schulterte, schüttete ich das Wasser über ihm aus. Der Soldat und sein Barett, vermengt mit dem Kondenswasser auf den Fliesen, perlten Tropfen für Tropfen von der Wand, formierten sich auf dem Badezimmerboden zu einer zähen grünblauen Welle und drifteten hinab Richtung Abfluss. Ich atmete auf. Dann richtete ich mich auf und öffnete die Aluminiumtür des Badezimmers. Ich nahm Herrn Esmailis Bademantel von deren Rückseite und warf ihm den Mantel über seinen zitternden Körper. Ich half ihm dabei, seine Hausschlappen anzuziehen und vorsichtig das Bad zu verlassen. Dann rückte ich dem Badezimmerboden mit der Bürste zu Leibe. Mein Blick fiel auf den kleinen Hocker. Das Wort Allah war zwischen einem seiner Füße und dem Boden eingeklemmt. „Gott möge mir vergeben“, sagte ich, biss mir fest auf die Lippen, schloss die Augen und goss das restliche Wasser aus der Waschschüssel darüber. Langsam öffnete ich die Augen wieder und sah aus dem Winkel wie das Alef, die zwei Lam, ein kleiner, abgetrennter Taschdid[2] und das He sich voneinander lösten, wie die Farbe der Lettern verlief und sie einer nach dem anderen den Abfluss hinunterrutschten.

 

 

[1]Gemeint ist die Tochter des Propheten Mohammad, Fatima bint Muhammad, deren Spitzname az-Zahrā (die Strahlende) ist. Fatima ist die Mutter von Hussein, einer wichtigen Märtyrergestalt im schiitischen Islam. [A. d. Ü.]

[2] Der Taschdid ist ein Zeichen im arabischen Alphabet, mittels dessen die verstärkte Betonung eines Konsonanten gekennzeichnet wird. Es hat die Form eines kleinen Doppelhäkchens und wird über den zu verstärkenden Konsonanten, hier das „L“, gesetzt. [A. d. Ü.]

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