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Die rote Tasche

Atefe Asadi
© Shirin Ashkari, ohne Titel, Acryl auf Holz (2018)

Ich liege ausgestreckt im WC und presse meine Stirn gegen den Boden, um Hitze an die kalte Keramik abzugeben. Ich weiß, sobald ich zurück ins Wohnzimmer gehe, kommt die Übelkeit wieder. Nackt ausgestreckt hier zu liegen, direkt neben der Toilette, gibt mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit; wenn ich mich übergeben muss, würde ich nicht Jürgens geliebtes Ledersofa einsauen. Jürgen selbst liegt in seinem Zimmer und schläft. Seit er mir den Laufpass gegeben hat, hat er mich nicht in sein Schlafzimmer gelassen. Er hat mir bloß erlaubt, auf dem Kanapee zu schlafen, bis ich etwas finde; dann muss ich mich aus seiner schönen Wohnung verpissen, die von Musik erfüllt ist und dem Duft von Kaffee, und in einem anderen Winkel dieser Stadt zum Teufel gehen. Letzte Woche, als er nach Berlin gefahren war, um auf einer Veranstaltung zu spielen, bin ich plötzlich verrückt geworden und hatte die fixe Idee, die Gipswände seien doch ganz schön runtergerockt. Ich ging los ein paar Eimer gelbe Farbe kaufen und strich die ganze Wohnung, um sie lebendig zu machen. Dann ging ich in einen persischen Supermarkt, kaufte Kräuter und rote Bohnen und setzte ein Ghormeh Sabzi für ihn auf. Zum ersten Mal nach sechs Monaten hatte ich den Eindruck, lebendig zu sein und es beginne hier für mich nach Zuhause zu riechen. Ich hatte gerade den Reis gedämpft, als er ankam. Erst schnüffelte er erstaunt: Wieso roch es im ganzen Flur nach Verwesung? Noch an der Tür, kaum einen Schritt in der Wohnung, traf ihn schon der Schlag. Er schrie und schäumte, mit welchem Recht ich das getan hätte und wie ich auf die Idee käme, mich, nur weil wir miteinander schliefen, zum Herrn über seine ganze Wohnung und sein Leben aufzuschwingen. Er schimpfte und fluchte auch über sich selbst, wie er so dämlich hatte sein können, einem halbwüchsigen Schwarzschopf zu vertrauen und ihn zu sich in die Wohnung zu lassen. Seine blauen Augen waren vor Wut rot unterlaufen. Er verpasste der Wand einen Tritt und etwas von der gelben Farbe, die noch nicht getrocknet war, blieb an seiner Schuhspitze haften. Er packte den Topf mit dem Ghormeh Sabzi, das mittlerweile gut durchgezogen war, und leerte ihn in das Spülbecken. Dann stopfte er verschiedene Kleidungsstücke, die er selbst mir gekauft hatte, in meine Sporttasche und stellte sie vor die Tür: Auf Wiedersehen! Ich flehte ihn an. Auf Englisch, in gebrochenem Deutsch, sogar auf Persisch, was er nicht verstand. Mir war, als seien der Oberlippenbart und die Barthaare auf meinen Wangen verschwunden, als sei ich zusammengeschrumpft und wie ein Siebenjähriger, der den Lehrer bekniet, er möge ihn neben Meysam sitzen lassen, klein und schutzlos. Am Ende gab Jürgen nach. Er nahm seinen Hut ab, fuhr sich mit der Hand durch das graue Haar und sagte sehr ernst, ich könne bleiben, aber nur noch zwei Wochen. Dann öffnete er trotz der Kälte sämtliche Fenster, damit der Geruch des Ghormeh Sabzi aus der Wohnung zog, und sprach kein weiteres Wort mit mir. Auch mein Taschengeld strich er.

Ich wünschte, Jürgen würde mich wie an jenem Tag, an dem ich erstmals zu ihm nach Hause kam, ins Badezimmer setzen, vor einen Spiegel, mir den Bart rasieren und die Haare schneiden. Dann ein Schweinegericht für mich kochen und sein spezielles Gemüse und nach dem Abendessen dann Violine spielen und meine weinfeuchten Lippen küssen und seine kratzigen grauen Bartstoppeln in mein Gesicht drücken und mich in das große, traumhafte Zimmer lassen, unter die samtigen Decken in seinem Bett. Ein Meer an Billigbier und dieser Fisch, der roh geschmeckt hatte, gehen in meinem Magen durcheinander und ziehen mir die Kehle zusammen, wenn sie hochkommen. Mein letztes Kleingeld habe ich zusammengekratzt, denn wenn ich mich bis zum Erbrechen mit Bier volllaufen ließe, würde ich ja vielleicht nichts mehr merken; aber all die Dinge, die ich mich tagtäglich zu vergessen bemühe, drängen sich mir nun noch vehementer in den Kopf. Jürgen ist schon vor Stunden eingeschlafen. In seine empfindlichen Ohren hat er sich Ohrstöpsel gesteckt und mein lautes Würgen hat ihn nicht geweckt. Vielleicht kommt er auch bewusst nicht zu mir. Ich wünsche mir Mama her, wie sie mir ein kühles Tuch auf die heiße Stirn legt und mir Zuckerwasser zu trinken gibt und mit einem Teller Joghurtreis an mein Bett kommt, wenn mein Magen sich beruhigt hat. Mama, wie sie am Flughafen feuchte Augen bekommt und mir nachläuft und nicht zulässt, dass ich fortgehe. Ich wünsche mir mein Bett her, das aus einem Polster mit blauen, ausgeblichenen Blumen bestand, einer roten Kuscheldecke mit Blumenprägung und einer Nackenrolle, die das Gewicht meines Nackens an einer Stelle eingedrückt hatte. Mein Bett, das immer vor dem Fernseher ausgebreitet wurde. Ich wünsche mir, Fußball ohne Ton zu schauen und mit Meysam Chips zu essen, aus einer Dose, behutsam, so dass das Knuspern Mama nicht vor dem Morgengebet weckt. Wünsche mir Meysam her, wie er meine Hand aus der Chipsdose zieht und sie drückt und seine schnellen Atemzüge an meinem Ohr. Meysam, wie er mit eigenen Händen ein kleines Holzboot anfertigt und es mir an meinem Geburtstag heimlich in die Schultasche steckt. Meysam, wie er mich mit in unser morsches Einzelbett nimmt, unter der Treppe der Tischlerei in der Türkei, und in seinen Armen in den Schlaf wiegt. Ich wünsche mir Meysam her, mit seinem nach Holz und Sägemehl duftenden Körper. Meysam, wie er meine Küsse auf seine immerzu geschundenen Fingerspitzen legt. Meysam, der sagt, das Unglück wird ein Ende haben und alles gut werden und wir werden zusammen nach Deutschland gehen, wo wir endlich wirklich leben können, ohne Angst davor, getötet zu werden. Meysam, der mir seine rote Sporttasche aus der Hand nimmt, Meysam, der nicht ins Meer gefallen ist, Meysam, der mit mir das Ufer erreicht hat. Ich würge und halte meinen Kopf in die Toilettenschüssel. Ich erbreche die letzten rohen Fischstücke. Das Geräusch von Jürgens Schlafzimmertür ist zu hören, dann fällt sein Schatten auf mich. Einige Minuten lang steht er im Türrahmen. Ich warte, aber er kommt nicht näher. Er legt mir keine warme Hand auf die Schulter. Er sagt kein liebevolles Wort. Er schreit nicht. Sein Schatten verschwindet. Ich wende meinen Kopf. Meysams rote Tasche steht an der Toilettentür.

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