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Ich pflege mein Fremdsein – Brief 3

Rasha Alqasim an Abdalrahman Alqalaq, Göteborg, 15. Oktober 2022

Übersetzung: Sonja Jacksch aus dem Arabischen

Lieber Abdalrahman,

immer schon wollte ich lieber der obskure Teil der Geschichte sein, der Teil, der so lange wie möglich im Schatten bleibt. Seit Jahren pflege ich mein eigenes Fremdsein so sehr, dass ich es inzwischen vermeide, Menschen beim Namen zu nennen. Es ist, als gäbe mir die Distanz das Gefühl, sicherer zu sein. Aus diesem Grund finde ich keine Antwort auf Deine Frage, wann genau die anderen aufhören, Fremde zu sein. Ich habe meine Freundschaften immer weiter reduziert und in der Vergangenheit zurückgelassen, so dass ich heute fast ohne Freundschaften und ohne soziale Medien lebe. Ich frage nicht nach den anderen und warte nicht darauf, dass jemand nach mir fragt. Die Vertrautheit mit anderen Menschen bescherte mir Verlust, sie bescherte mir Sehnsucht, Reue und die Furcht davor, im Exil jemanden ernsthaft in mein Leben zu lassen. Heute begnüge ich mich damit, die Menschen nur oberflächlich zu kennen, ich vertiefe mich weder in ihr Leben noch versuche ich, sie zu verstehen, weil das alles genau die Form der Annäherung ist, die ich unbedingt vermeiden will. Vielleicht bestätigt das auf die eine oder andere Art Deine Sichtweise, dass Menschen einander nicht allein dadurch kennenlernen, dass mit der Zeit die Entfernung zwischen ihnen fortgewischt wird.

Ich danke Dir für Deinen Brief und gratuliere Dir, dass Du es geschafft hast, Dich nicht an Städte oder Orte zu binden. Ich bin noch dabei, das zu lernen. Ich möchte meine Tage unbeschwert verbringen und wieder gehen können, ohne an Orten oder Personen zu hängen. Stattdessen möchte mich Büchern, Blumen und Worten widmen. Diesmal wird es weniger schwierig sein als damals, als ich den Irak verließ, auch wenn die Tatsache, dass ich zu Hause eine Bibliothek eingerichtet habe, vermuten lässt, dass ich mich auf einen längeren Aufenthalt einstelle …

Unser beider Blick auf die Fremdheit ist, wie in verschiedenen Kapiteln eines Buches zu lesen. Fremdheit ist für Dich ein Gefühl, das jeder Mensch einmal im Leben erfahren muss, während es für mich damit zusammenhängt, wie ich den Irak verlassen habe. Es kommt mir vor, als sei ich verbannt worden, ohne das Recht zu haben, ein letztes Mal zurückzublicken. Vielleicht wäre es anders, wenn ich den Irak nicht mit der Absicht verlassen hätte, nach zwei Wochen zurückzukehren, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass dies meine letzten Tage dort sein würden und dass ich mich gebührend von all dem verabschieden muss … Doch jetzt lesen wir dasselbe Kapitel. Fremdheit ist für Dich eine Erfahrung und ein menschliches Bedürfnis, während es für mich eine Wunde ist, die ich bisher nicht behandeln konnte oder mit der ich nicht umzugehen wusste.

„Die Welt schien ihm wie die offene Wildnis, also breitete er sich in ihr aus.“ Das sagte der Dichter Hassan Najmi über den irakischen Dichter Sargon Boulus, als er ihn in San Francisco traf, und ich erinnerte mich daran, als ich Deinen bewegenden Brief über Syrien las. Auch wir sahen die Welt als offene Wildnis und breiteten uns in ihr aus. Dabei tragen wir unsere Erinnerungen auf den Schultern, Erinnerungen, die von Tag zu Tag schwerer werden, als wäre das Weiterleben weit entfernt vom Krieg eine Schuld, für die wir mit immer mehr obsoleten Details aus unserer Erinnerung bestraft werden. Doch diese Einzelheiten und Bilder erinnern uns in Wahrheit daran, dass wir immer noch dort sind, auch wenn wir physisch hier leben. Und in Wahrheit ist es auch so: Ein Teil unseres Lebens ist noch dort, es ist der Teil, der sich nicht von den Gebäuden, Straßen und Menschen dort trennen lässt.

Das Gute daran? Dass diese Erinnerungen die einzige Nahrung für das Schreiben sind. Beim Schreiben sind wir wie ein Kind, dem die repressiven Regime und Kriege eine Schale voll Wasser in die Hand drücken und ihm dann sagen: „Lauf, wohin du willst, vorausgesetzt, dass du keinen Tropfen verschüttest!“ Dieses Kind wird weiter von einer Stadt zur anderen rennen und die Veränderungen um sich herum nicht sehen, weil seine Augen auf die Schale gerichtet sind. Es will weiter aus dem endlosen Wasser schöpfen, ohne dass ein einziger Tropfen auf den Steinboden des Vergessens fällt. Das ist das Vermächtnis dieser Länder für ihre Kinder.

Es gibt also keine Sehnsucht nach oder eine Zugehörigkeit zu einem Ort, weil wir buchstäblich in der Vergangenheit leben. Wir gehören dorthin, doch wir sehnen uns nicht danach, weil wir das Dort überhaupt nicht verlassen haben, und daher ist es ein Leichtes, über jene Städte zu schreiben. Ich kann Dir von Bagdad schreiben, als schriebe ich über meine Handfläche. Um etwas über unsere Städte zu verfassen, das ihren Status und ihr historisches Gewicht einfängt, müssten wir sie verlassen haben, aber alles, was wir aktuell über Bagdad oder Damaskus schreiben, schreiben wir so, als seien wir noch dort.

Ich sage „wir“, weil ich glaube, dass wir zwar Menschen unterschiedlicher Ethnien und Kulturen sind, die Kriegsmaschinerie uns aber im Grunde mit den gleichen Gefühlen und Konzeptionen hervorgebracht hat. Syrien ist im Gedächtnis vieler Iraker ein Zufluchtsort, der die Oppositionellen stets aufnahm, wenn sie vor der Geißel der Belagerung und des damaligen diktatorischen Regimes fliehen mussten. Ich sage Dir ganz ehrlich, wir waren wie jemand, der einen kleinen Brand in seinem Haus zu löschen versucht, aus dem Fenster schaut und sieht, dass sein Haus und das seiner Nachbarn bereits in Flammen stehen. So erging es uns nach dem Syrienkrieg. Die Städte, durch deren Straßen wir immer spaziert waren, von deren Brot und Oliven wir gegessen hatten, standen in Flammen. Die Bewohner dieser Städte hatten viele Jahre mit uns zusammengewohnt. In Flammen standen die Gedichte von Nizar Qabbani, Muhammad Al-Maghut, Adonis, Riyad Al-Saleh Al-Hussein und anderen, Gedichte, die von Bagdad aus rezitiert und auf der Al-Mutanabbi-Straße gelesen wurden. All dies wirft die Frage auf: Wie soll jemand Hoffnung schöpfen, dessen Zufluchtsort niedergebrannt wurde?

Es tut mir sehr leid für die Städte, die sich verändert haben, bevor ich sie besuchen konnte, Städte, die ich nur durch diejenigen kennengelernt habe, die zurückkehrten oder in andere Länder gingen. Syrien lernte ich kennen, indem ich mich mit Poesie beschäftigte. Mein Syrien ist das Syrien aus den Gedichten von Nizar Qabbani, ich sah den Damaszener Jasmin an den Hausfassaden. Ich sage Dir, ich konnte seinen Duft in den Worten riechen.

Im Fernsehinterview mit dem irakischen Dichter Saadi Youssef antwortete er auf die Frage nach der Sehnsucht: „Als ich die Sehnsucht besiegte, richtete sich mein Rücken auf.“ Ich denke nicht, dass sich der Rücken eines Dichters aufrichtet, wenn er die Sehnsucht besiegt, sondern wenn er sich selbst und das besiegt, was in jenen Straßen in jenen Gebäuden für immer in den Tiefen der Vergangenheit lebt.

Rasha

 

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