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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Rasha Alqasim & Abdalrahman Alqalaq > Darf niemand mehr Süßwaren kaufen, nur weil Krieg im Land ist? - Brief 2

Darf niemand mehr Süßwaren kaufen, nur weil Krieg im Land ist? – Brief 2

Abdalrahman Alqalaq an Rasha Alqasim, Rabat, Marokko, 20. September 2022

Übersetzung: Günther Orth aus dem Arabischen

© Abdulrahman Alqalaq

Liebe Rasha! – Ist das die richtige Anrede für Dich? Oder sollte ich meinen Brief lieber beginnen mit: Liebe Fremde?

Auch ich glaube, dass das Reisen uns dazu bringt, denen zu vertrauen, die uns anders sehen als die, die wir kennen. Und dass wir uns – wenn wir Fremden gegenüber ein Reiseziel oder einen Herkunftsort angeben – von dem Gefühl leiten lassen, die Person zu werden, die wir sein möchten.

Aber wann kommen Menschen in ihren Beziehungen eigentlich an den Punkt, dass sie sagen: Jetzt sind wir keine Fremden mehr?

Wie gut wir uns auch die Namen anderer Menschen merken und wie gegenseitig vertraut uns unsere Gesichter oder bestimmte Bereiche unseres Lebens sind, so bleiben wir uns im Grunde doch alle fremd, und das ist ganz natürlich. Denn abgesehen von unseren kulturellen, sprachlichen oder ethnischen Identitäten, die den Grad unserer Fremdheit bestimmen, schlummert in uns etwas, das uns selbst unter Freunden und Gleichsprachigen zu Fremden macht, auch ohne dass wir uns selbst in die Fremde begeben. Meine Vorstellung von der Fremdheit als etwas Menschlichem und Natürlichem hat sich daraus ergeben, dass ich ständig durch verschiedene deutsche Städte reise, ohne dass ich zu ihnen oder ihren Bewohnern ein tieferes Verhältnis entwickele. Was mich dagegen verwundert, ist, wenn jemand noch nie in seinem Leben Fremdheit erlebt hat, unabhängig davon, ob er seine Wohnung, sein Land oder seinen Sprachraum jemals verlassen hat!

Liebe Rasha, liebe zweifach Fremde!

Vielen Dank für Deinen Brief, der mir den Irak vor meinem inneren Auge hat auferstehen lassen – obgleich ich Dein Land nicht als Bild, sondern nur als Stimme kenne! Die Stimme des Irak habe ich vor vielen Jahren kennengelernt. Damals war ein junger Iraker mit seiner Familie vor dem US-amerikanischen Einmarsch nach Damaskus geflohen und schloss sich irgendwann einem Damaszener Chor an, in dem auch ich sang. Er hieß Muhannad. Und obwohl Muhannads Stimme für mich die Stimme des Irak war, vergaß ich ihn zehn Jahre lang, bis ich ihn im Oktober 2019 auf Facebook suchte. Durch die Berichte von den großen Demonstrationen im Irak hatte ich mich wieder an ihn erinnert.

Ich versuchte, mich an sein braunes Gesicht zu erinnern, entsann mich aber nur seiner Stimme. Auch seinen richtigen Familiennamen hatte ich vergessen; ich schrieb ihn mal so, mal so und löschte die Buchstaben wieder, weil ich fürchtete, ich würde seinen Namen auf einer Liste derer finden, die bei den Demos getötet worden waren – diese endeten meist mit Toten, Tränengas und Verhaftungen. Immer wenn wir zu Ende geprobt hatten, spielte Muhannad noch ein wenig auf seiner Oud und sang dazu ein altes Lied: Ya nab’at ar-raihan … Aber ich konnte mir sein Gesicht nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Seltsam, dass man sich an die Stimme eines Menschen erinnert, aber nicht an sein Gesicht.

Du schreibst von Deinem Gefühl der Fremdheit in den Städten, unter den Menschen und angesichts der Sprachen. Aber sind das nicht Ideen, die wir selbst schaffen? Wir jagen einem Phantom namens Sehnsucht, Reue oder Heimweh nach, und wann immer ich hier in gebildeten Kreisen davon spreche, kommt das gut an, weil keiner es versteht und es interessant klingt. Es ist ein Phantom ganz eigener und fremder Art.

Du sprichst von Deiner früheren Heimat. Auch ich sehne mich nach Dingen, selbst nach solchen, gegen die ich angekämpft hatte. Bei jeder Lesung werde ich danach gefragt, und immer soll ich Antworten auf Fragen finden, auch wenn ich nichts über diese Dinge weiß: die Geografie, Politik, Geschichte und Psychologie aller Orte, an denen ich einmal war. Ich werde nach meiner Sehnsucht nach Plätzen befragt, an die ich nie wieder werde reisen können, aber die Fragenden wissen nicht, dass all meine Erinnerungen – Bilder, Lieder, Gerüche, Orte – ihre Fragen nicht beantworten können. Mit Sehnsucht lässt sich kein Ort aus der Gegenwart oder der Vergangenheit einfangen. Sie schwebt nur über meinen Erinnerungen aus Städten und Häusern, so wie ich sie gesehen habe oder sie mir vorstelle oder auch nur, wie ich sie mir gewünscht hätte.

Mein Erinnerungsvermögen überrascht mich aber zuweilen auch. Ich vergesse zwar die Namen von Freunden, Haus- und Telefonnummern, aber wenn ich mit Freunden in Damaskus spreche, frage ich sie nach Einzelheiten, auf die sie nie geachtet haben oder die es vielleicht auch gar nicht mehr gibt. Aber für mich ist die Zeit nicht vergangen. Es stimmt, die meisten, die den Krieg erlebt haben, sind noch immer Gefangene seines Rhythmus, der auch jetzt noch gleich schnell schlägt, obgleich weniger Bomben fallen und das Blut der Demonstranten in den unbepflanzten Blumentöpfen vor grauen Damaszener Hauseingängen längst getrocknet ist. Und doch sitze ich heute in einem Café auf einer belebten Straße in Hildesheim und schreibe über Damaskus als einer, der die Stadt einst kannte. Aber eigentlich weiß ich kaum noch etwas, außer das, was die hierzulande so genannte Sehnsucht mir eingibt.

All die Bilder, von denen ich einst in meinem Text „Flashback“ geschrieben habe (einer meiner ersten Texte in Deutschland), entstammen allein meiner Erinnerung, die den Krieg mit meinen Augen gesehen hat. Der Krieg mag in Damaskus vorbei sein und sich von Todesgefahr in eine Wasser- und Stromkrise verwandelt haben, von der Gefahr, durch eine Kugel zu sterben, in ein tödliches Warten, aber für mich ist er nicht vorüber. Für mich ist Damaskus eine Stadt des ewigen Krieges. Darin steckt die Überheblichkeit dessen, der weit weg ist. Denn wie soll ich über eine Stadt sprechen, in der noch immer an die drei Millionen Menschen leben, während ich hier sitze und unterstelle, dass es im Krieg keinen normalen Alltag gibt? Warum tun manche so erstaunt, wenn Leute von der rechtsextremen AfD nach Syrien reisen und Fotos von belebten Straßen und Süßigkeitenverkäufern in der Damaszener Altstadt posten? Darf eine dortige junge Frau, die Tag und Nacht arbeitet, sich denn kein schönes Kleid kaufen und damit durch die Straßen laufen, durch die man in Syrien noch laufen kann? Darf niemand mehr Süßwaren kaufen, nur weil Krieg im Land ist? Sollen wir enttäuscht darüber sein, dass Damaskus noch nicht untergegangen ist wie die Städte in alten Balladen?

Immer wenn ich über Damaskus schreibe, überrascht mich ein tiefes und beunruhigendes Bedürfnis, den Krieg im Text zu verankern. Ich gebe dem Geschriebenen keine Chance, auch nur einen Moment einzufangen, der nicht vom Krieg dominiert ist. Und das Wort Krieg verbannt zugleich alle anderen Leiden der Menschen, seien sie dort gefangen oder hier im Exil. Dass der Begriff dennoch bei allen auftaucht, die aus „Salzstädten“ kommen, sollte ebenso wenig überraschen wie Fotos von bunten Süßwaren in Damaskus. Nur ist die Literatur ästhetisch gesehen offenbar zu schwach, sich dem Wort zu entziehen.

Ich frage mich oft, ob Gedichte, die heute über Syrien geschrieben werden, deshalb so gern gehört werden, weil sie so laut sind oder weil sie so sehr nach verbrannten Autoreifen riechen. Jedenfalls enthalten auch sie das Wort Krieg, selbst dann, wenn der Autor es mit Metaphern oder Umschreibungen ausdrückt und es eher wie das Brummen eines Flugzeugs klingt. Ich selbst habe dieses Geräusch einmal mit dem Brummen eines alten Kühlschranks Marke Oka verglichen, an das sich die Bewohner so sehr gewöhnt hatten, dass sie nach ihrer Flucht in den Norden bei eBay ein ähnliches Modell suchten, um wieder einschlafen zu können.

Kann man das Wort Krieg in einen Text schreiben, ohne dass es alles andere dominiert?

Abdalrahman

 

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