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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Rasha Alqasim & Abdalrahman Alqalaq > Brief einer Fremden an einen anderen Fremden - Brief 1

Brief einer Fremden an einen anderen Fremden – Brief 1

Rasha Alqasim an Abdalrahman Alqalaq, Göteborg, 12. August 2022

Übersetzung: Suleman Taufiq aus dem Arabischen

 

© privat

Ach, Fremder!

Wer kehrt zurück,

wenn das Auge blinzelt

und keiner da ist?

Ich werde Dir erzählen, was eine Fremde in der Fremde schmerzt. Die Worte sind wie ein Papierflieger, ich weiß nicht, welche Hand ihn fangen wird, aber darüber mache ich mir auch keine Gedanken.

Ach, Fremder! Vielleicht weißt Du nicht, dass wir als Familie innerhalb des Irak von Haus zu Haus gezogen sind. Wie viele Häuser es waren, daran erinnere ich mich nicht mehr. Aber es ist mir nicht schlecht ergangen. Ich tat so, als wäre mir das Herumziehen egal. Ich zog mit meiner Familie immer weiter und baute die Erinnerungen aus der Heimat immer aufs Neue wieder auf.

Eine Verwandte nach der anderen emigrierte ins Ausland. Die Zahl der Familienmitglieder schmolz zusammen, Freunde verschwanden, Bücher gingen verloren.

Ich fühlte mich obdachlos, mein Land habe ich für immer verloren.

Ein Haus ist nichts anderes als eine Idee, die wir uns ausgedacht haben. Was uns daran bindet, ist sein Inhalt und vor allem das, was wir vermissen.

Durch Trennungen und Umzüge von einem Ort zum anderen leuchtet die Idee von einem Zuhause umso heller, wie ein scharf geschliffener, ferner Edelstein.

Während des Umzugs im Irak und bevor ich einen Flüchtlingsstatus erhalten hatte, trug ich meine Erinnerungen immer mit mir. Ich bewahrte sie für einen Ort auf, von dem ich weiß, dass er später mein Zuhause sein wird, wo ich mir eine eigene Bibliothek einrichten werde mit meinen Büchern, die ich unversehrt gerettet habe.

Mein Kummer war von einfacher Art. Aufgrund der ständigen Umzüge trauerte ich um Dinge, die ich früher nicht beachtet hatte, um verwelkte Pflanzen etwa und beschädigte Blumentöpfe. Ich war glücklich mit den Büchern. Heute bin ich manchmal traurig und habe Angst, dass jemand liest, was ich an den Seitenrändern notiert habe. Ist es nicht seltsam, dass ein Schriftsteller sich vor so etwas fürchtet?

Der endgültige Wechsel von einem Kontinent zu einem anderen war für mich, als würde man einen Baum entwurzeln und ihn dann in eine neue Erde pflanzen. Vielleicht kann sein Leben auch in unbekanntem Boden gedeihen.

Beim letzten Umzug entdeckte ich, dass für mich als Dichterin meine Erinnerungen mein Zuhause sind. Was bedeutet das alles, wenn das Rohmaterial Deine Gedichte, Deine Erinnerungen und Dein Haus sind?

Das Haus wird zu einem Hotel. Je mehr Menschen es verlassen, desto mehr füllt es sich mit Erinnerungen, und darüber legen sich Schichten von Staub und Feuchtigkeit.

Ich befinde mich jetzt in einer Umgebung, in der ich nicht auf die soliden Gebäude und die gut befahrbaren Straßen achte, als ob mich diese vollkommene Schönheit nicht interessierte. Ich möchte so gern eine andere Schönheit sehen, eine voller Mängel und Scharten.

In diesem neuen Leben habe ich mich bemüht, wieder in der Nähe von Büchern zu sein. Es ist mir gelungen, in Göteborg eine Stelle als Bibliothekarin in einer schwedischen Stadtbibliothek zu bekommen. Ich berühre die zurückgegebenen Bücher und lächle sie an und die Besucher glauben, ich würde sie anlächeln.

In diesem Leben bin ich erkennbar fremd. Ein Gefährte läuft neben mir her und führt mich durch die Straßen. Er nimmt mich an die Hand, wenn wir die Straße überqueren, die ich nicht sehe. Und er versucht, mir das Lesen von Stadtplänen beizubringen. Ich bin sicher, dass es ihm nicht gelingen wird.

Ich bin hier, aber mein Gedächtnis ist an einem anderen Ort.

Ich bin nicht geschickt genug, um herauszufinden, wie ich einfach den Finger auf die Wunde legen könnte. Ich bin auch nicht geschickt genug, um das Geheimnis zu bewahren und meinen Schmerz zu verbergen.

Das Schreiben hat mich gelehrt, die Wunde zu spüren, es hat mich gelehrt, mich nicht zu schämen für das, was mir passiert ist. Vielleicht fühle ich mich deshalb wohler, vielleicht bin ich deshalb bereit, mit Fremden zu reden. Vielleicht aber hat das Reisen, wie der italienische Schriftsteller Cesare Pavese sagte, auch eine dunkle Seite. Drängt sie Dich dazu, Fremden zu vertrauen?

Rasha

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