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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Bilqis Soleimani & Omar Al-Jaffal > Ich rede nicht gern über den Krieg, aber ist nicht unsere gesamte Vergangenheit ein einziger Krieg? – Brief 2

Ich rede nicht gern über den Krieg, aber ist nicht unsere gesamte Vergangenheit ein einziger Krieg? – Brief 2

Omar Al-Jaffal an Bilqis Soleimani, Berlin , 21. September 2022

Übersetzung: Kerstin Wilsch aus dem Arabischen

Die Großmutter von Omar Al Jaffal in Bagdad © Privat
© Privat

 

Liebe Bilqis,

der Krieg verschlingt die Männer, verbrennt ihre Träume und Körper in seinem Feuer und führt sie in Welten, von denen wir keine Ahnung haben. Aber die Frauen im Krieg – und danach – verwelken in seiner Asche. Langsam lösen sich ihre Ambitionen, ihre Gefühle und ihre Körper auf. Ich habe sie in ihrer vollen Blüte erlebt, sie lachten der Sonne zu, wenn sie ihre Haut berührte, aber ich habe auch gesehen, wie sie zu alten Frauen wurden, die keine Kraft mehr hatten für das Leben, das all dieses Unheil über sie brachte.

Mein Onkel gehörte zu den 1987 im Krieg zwischen Irak und Iran Verschollenen. Er war mein einziger Onkel väterlicherseits und ich habe ihn nie getroffen, weil ich erst danach geboren wurde. Natürlich wurden Legenden um ihn gewoben, um seine Schönheit und Würde, seine Größe und seine Schweigsamkeit.

Dieser Onkel hieß Hussain. Im Haus meiner Großmutter hing ein einziges Bild von ihm an der Wand. Das Haus war im Bagdader Stil gebaut, wo die Lichtstrahlen durch die Decke auf die roten Fliesen, die milchigen Wände und das farbige Fensterglas fallen. Unter diesem Bild saß gewöhnlich meine Großmutter, die aus dem Südirak stammte und auf ihrem ganzen Körper Tätowierungen trug. Mein Onkel blieb auf dem Bild all die Jahre ein junger Mann, während meine Großmutter immer älter wurde, immer mehr rauchte und Tee trank, der mit der Zeit immer schwärzer wurde.

Ich habe sie jetzt vor meinen Augen, wie sie auf dem Boden sitzt, eingehüllt in Zigarettenrauch und neben sich eine Kanne mit kochend heißem Tee, während sich das Licht mit dem Rauch und dem Dampf zu einer Farbe zwischen Orange, hellem Lila und Grau vermischt.

Mein Onkel liebte unsere Nachbarin und sie liebte ihn.

In unserer Familie wussten nur wenige von dieser Liebe: einige meiner Tanten väterlicherseits, meine Großmutter und mein Vater. Ich kann Dir jetzt nicht einmal den Namen dieses Mädchens nennen, weil ich ihr Probleme bereiten oder gar ihre Ehe zerstören könnte. Stell Dir das nur einmal vor! Nach all den Jahrzehnten könnte ihr Mann eifersüchtig und sein Stolz verletzt werden, weil seine Frau vor ihm einen anderen Mann gekannt oder geliebt hatte!

Auf jeden Fall, liebe Bilqis, erinnere ich mich an dieses Mädchen. Sie war hellhäutig und großgewachsen, und wenn sie lief, schien es, als trüge sie in ihrer Hand die Strahlen des Lichts der ganzen Welt. Ihre Augen jedoch waren wie zwei endlos tiefe Brunnen voller Traurigkeit. Im Laufe der Jahre sah ich sie dahinwelken, während sie auf Hussain wartete. Schließlich heiratete sie. Sie kam zu meiner Großmutter, umarmte sie so fest, dass ich meinte, ihre Rückenknochen knacken zu hören, und sagte: Du riechst wie Hussain. Sie küsste Großmutter auf beide Wangen und die rechte Hand, die mit einem langen, bis zum Ellbogen reichenden Schlüssel tätowiert war.

Hussain war weder getötet noch in Gefangenschaft genommen worden, sondern er wurde als vermisst gemeldet. Das bedeutete, dass alle glaubten, er würde jeden Augenblick hereinkommen. Es war, als hätte die Familie eine riesige Werkstatt zur Herstellung von Wartegeräten eingerichtet. Diese hatte sie dann in große, glänzende Kisten verpackt und im Haus verteilt, um uns Kinder und Enkelkinder ständig aus ihnen zu versorgen.

Wir waren alle während des Krieges oder danach geboren und mussten die Kriege erleben, die ihm folgten und in den Häusern und Schlafzimmern stattfanden. Dieses Mädchen führte seinen eigenen Krieg. Sie musste über schicksalhafte Entscheidungen nachdenken, falls Hussain plötzlich zurückkehrte. Meine Großmutter führte einen anderen Krieg mit meinen Tanten und meinem Vater, denn sie erlaubte ihnen nicht, irgendwelche Renovierungen am Haus vorzunehmen. Wenn Hussain zurückkehrte, würde er es nicht wiedererkennen und sich in ihm verlaufen und wir würden ihn nie wiederfinden!

Auch mein Vater war besorgt: Wie sollte er Hussain die Veränderungen in Bagdad und die düstere Realität der Stadt erklären? Seine Freunde machten sich darüber Gedanken, wie sie ihm beibringen sollten, dass sie geheiratet hatten und nicht auf ihn gewartet, um ihn zur Hochzeit einzuladen. 1998, inmitten der Wirtschaftsblockade des Irak, beschloss meine Großmutter endlich, mir seine Kleidung zu geben, weil das Opferfest näherkam und sie mir keine neuen Sachen kaufen konnte.

Ich erinnere mich, wie ich Hussains Hosen kürzen ließ, um sie zum Fest zu tragen, eine graue und eine dunkelblaue Nadelstreifenhose. Das war das einzige Mal, dass meine Großmutter eine Entschuldigung vor sich selbst fand, Hussain durch die Verteilung seiner Sachen zu verraten. Sie sagte: „Er wird sich freuen, dass die Kinder seines Bruders erwachsen geworden sind und nun seine Kleider tragen können.“

Jahre später würde ich Kriegsheimkehrer kennenlernen, die im Krieg Teile ihres Lebens und ihres Körpers verloren hatten. Nur zufällig hatten sie den Krieg überlebt. Das waren die Dichter der Generation der achtziger Jahre. Viele wurden gute Freunde. Sie zeigten mir die unsichtbaren defekten Stellen in der Seele, die niemand vor ihnen gefunden hatte. Gebrochene Seelen, die das Nichts verherrlichten. Ich wurde einer von ihnen.

Ich muss Dir einen kleinen Einblick in ihre Werke geben oder wenigstens ein paar Ausschnitte aus ihren Gedichten zeigen. Mohammad Mazloom, in den sechziger Jahren geboren und im Krieg Panzerfahrer, schreibt: „O Leben, meine Witwe.“

Naser Mounes vermeidet es, über den Krieg zu schreiben, und beschäftigt sich mit dem Unsichtbaren, dem Nichts, mit Kräutern und dem Kino. Bei ihm heißt es: „Die Leichentücher werden zu Engeln | die den Vorüberkommenden die Hände schütteln.“ Nasif al-Nassiri, der Lesen und Schreiben in Alphabetisierungskursen gelernt hat und täglich Gedichte verfasst, äußert sich so: „All meine Träume sind tot.“ Bassem al-Meraiby, der in Schweden lebt, formuliert: „Mein Leben hat die Form von Münzen, über die ein Zug gefahren ist.“ Hamid al-Ikabi, der in Dänemark verstarb, schrieb: „Selbst die Tore zu unserer Emanzipation haben sie gestohlen.“ Adam Hatem, der in den neunziger Jahren starb und den ich nicht persönlich kannte, schreibt: „Wenn man mich zwingen würde zu leben, würdest du mich eines Tages tot in fernen Tälern finden.“

Natürlich gibt es viele Gedichte und Verse dieser und anderer Dichter, die Klingen ähneln: scharfe, schneidende Texte, die sich rücksichtslos in die Seele eingraben. Ich habe die Gedichte, Bücher und Memoiren dieser Dichter verschlungen, habe an der Front gelebt, obwohl ich nie in meinem Leben einen Fuß dorthin gesetzt habe und nie Soldat war und sein werde.

Bilqis, mehr als einmal habe ich mir gesagt, dass ich die Geschichten über Hussain nicht erzählen werde, wenn ich wieder einen Iraner kennenlerne. Die Kriegsvergangenheit unserer Länder soll kein Gesprächsthema zwischen uns sein. Ich rede nicht gern über den Krieg, aber ist nicht unsere gesamte Vergangenheit ein einziger Krieg? So habe ich Dir nun diese Geschichte erzählt. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass wir alle die gleichen Geschichten vom Krieg teilen: Liebe, Schrecken, Zerbrechen, Verlust. Wir wollen mit anderen teilen, was wir erlebt haben, um einander besser kennenzulernen und die Mythen zu zerschlagen, die unsere Regime über uns erfunden haben.

Als wir 2001 nach Syrien zogen, traf ich zum ersten Mal viele Leute, die Persisch sprachen, nämlich im Sayyida-Zaynab-Viertel. Man sagt, dass sich dort das Mausoleum von Zaynab befindet, der Tochter des Imams Ali Ibn Abi Talib, des vierten Kalifen der Muslime, zu dem Schiiten aus der ganzen Welt pilgern, darunter auch Iraner. Ich hatte diese Sprache noch nie gehört. Sie fesselte mich; wenn die Leute sprachen, hörte es sich an, als würden sie singen. Das gilt besonders für Menschen aus Teheran, die die Sprache dehnen und weicher machen. Durch ihre Intonation lassen sie die kürzesten Wörter lang erscheinen. Ich habe auch Iraker gehört, die in Qom aufgewachsen sind und Arabisch mit persischem Akzent sprechen. Aber ich hatte keine Gelegenheit, mich mit Iranern anzufreunden und Zeit mit ihnen zu verbringen.

Das ist dann aber in verschiedenen Städten hier in Deutschland geschehen.

Eine Iranerin in ihren späten Zwanzigern brachte ihre sechs- oder siebenjährige Tochter in meinen Deutschkurs und holte sie dann am Ende wieder ab. Das Mädchen setzte sich in jeder Stunde neben mich und so lernte ich ihre Mutter kennen. Wir kochten zusammen, sprachen über den berühmten iranischen Gelehrten und Dichter Omar Chayyam, über Sohrab, die Heldenfigur aus einem bekannten Epos, und über Safran. Über den Krieg sprachen wir nur selten.

Interessant dabei war, dass wir in einer Sprache kommunizierten, die wir selbst erfunden hatten: eine Mischung aus Deutsch, Arabisch und Persisch. Das kleine Mädchen aber lachte über uns und verbesserte unser Deutsch wie eine Lehrerin, die ihr Leben lang unterrichtet hat. Sie war wie ein „sprechender Ratgeber“ für den Alltag. Sie brachte mich dazu, auf der Straße zu tanzen und zu singen und weniger zu rauchen. Vor allem aber sagte sie: „Von jetzt an redet ihr nicht mehr vom Krieg. Lasst uns lieber Pommes essen.“ Wir fügten uns ihren Befehlen. Sie wurde unser Wegweiser in die Gegenwart, nachdem die Vergangenheit die meisten unserer Gespräche bestimmt hatte.

An der Universität hatte ich drei iranische Kommilitonen, die aus verschiedenen Städten kamen. Am besten verstand ich mich mit Ali and Kazem. Ali brachte mir bei, wie man am besten Zigaretten dreht, nachdem ich zwei Jahre erfolglos versucht hatte, eine rauchbare zu drehen. (Das ist jetzt eine Gelegenheit, eine zu rauchen!) Ali kam jeden Tag müde und zerschlagen in die Uni, nachdem er sich die ganze Nacht mit seiner Freundin gestritten hatte. Dann sagte er: „Der Krieg bei mir zu Hause ist komplizierter als der Krieg zwischen Irak und Iran.“

Wir lachten über Ali. Wir lachten über den Krieg, obwohl jeder von uns einen Teil seiner Familie an der Front verloren hatte.

In Stuttgart bekam ich eine iranische Schwester. Sie war eine Musikerin aus Teheran. Eines der ersten Wörter, die sie auf Deutsch lernte, war „Bruder“. So rief sie mich dann. Später zogen wir nach Berlin. In einer Bar in der Hauptstadt fragte uns der Kellner, wo wir herkamen. Das passiert hier sehr oft und ist ziemlich ärgerlich. Wir sagten ihm, ich sei Iraker und sie Iranerin. Er riss seine Augen weit auf und ihm klappte die Kinnlade herunter: „Was?? Gab es zwischen euren Ländern nicht Krieg?“ Wir lachten, ohne zu antworten. Hatten wir überhaupt eine Antwort?

Zwischen meiner Freundin Muna und mir entwickelte sich eine Beziehung, die nicht jeder um uns herum verstand. Wir sprachen über die Kriegslieder und -hymnen unserer beiden Länder, über die „Latmiyyat“[1] und andere religiöse Rituale der Schiiten, gemeinsame Wörter im Arabischen und Persischen und über Politik. Unsere Gespräche fanden in einer noch seltsameren Sprache statt: Englisch, Deutsch, Arabisch, Persisch und viel, sehr viel Gestik und Mimik.

Muna sagte immer: „So eine Scheiße, dass wir acht Jahre lang Krieg geführt haben!“

Um ehrlich zu sein, liebe Bilqis, darauf hatte ich kein einziges Mal eine Antwort. Es gab tausend Gründe dafür, dass Irak und Iran miteinander Krieg führten. Ich habe Hunderte Seiten gelesen, auf denen man versuchte, politische, ökonomische und sicherheitspolitische Gründe zu finden. Aber ich als unbewaffneter Mensch finde darunter keinen einzigen überzeugenden.

Trotzdem spüre ich die Auswirkungen des Kriegs auf uns, die verschiedenen Generationen, die ihn selbst miterlebt oder zu seiner Zeit gelebt haben, und verstehe unseren ständigen Wunsch, sie zu überwinden und ein normales Leben zu führen, selbst wenn es langweilig wäre.

Ich schrieb einmal „Ich bin es leid, gerettet zu werden.“ In Bagdad gab es zu dieser Zeit täglich mehrere Sprengstoffanschläge, die ich überlebte, aber die Splitter der Angst stecken in meinem Herzen. Angst ist wie Elektrizität, die von einem Körper auf einen anderen überspringt. Ich konnte spüren, wie sie uns während unserer Treffen überwältigte.

Nachdem ich in Deutschland angekommen war, schrieb ich das Gedicht „Wir wollen nur das Leben“. Es entstand im Ergebnis langer Gespräche mit Freunden, Bekannten und auch Fremden. Mich beschäftigte die Frage nach dem Leben, seinem Sinn und seinem Wesen. Meine beiden Bücher mit Gedichten haben das Wort „Leben“ in ihren Titeln: „Life in an Exhausted Stretcher“ und „The Betrayal of Miss Life“.

Ich weiß, dass das Leben nie einfach sein wird, aber meine Partnerin sagt immer: „Lass uns reden.“ Vielleicht können wir es ja verstehen oder es weniger hart sein lassen.

Also, lass uns reden, liebe Bilqis. Jeder Abschnitt Deines Briefs lässt Fragen in mir aufsteigen. Aber ich werde hier nicht so viel fragen, ich möchte, dass wir miteinander sprechen, ohne dass sich unser Gespräch in einen journalistischen Dialog verwandelt. Lass uns Antworten und Geschichten austauschen, die uns zu weiteren inspirieren. Erzähl mir doch davon, wie Du die Literatur entdeckt hast, von den ersten Momenten des Schreibens, davon, wie Dein erstes Buch fertig wurde und wann Du zum ersten Mal vor einem Publikum gelesen hast. Erzähl mir von Deinem „Gespräch“ mit Freunden, Bekannten und Verwandten …

Voller Erwartung auf Deinen nächsten Brief grüße ich Dich ganz herzlich,

 

Omar

[1] Das zeremonielle Brustschlagen ist eine der häufigsten Trauerzeremonien bei Schiiten. Männer und Frauen versammeln sich und während sie um ihren Imam Husain Ibn Ali trauern, schlagen sie sich auf die Brust.

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