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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Bilqis Soleimani & Omar Al-Jaffal > Ich bin froh, dass Du jetzt auf der Seite des Lebens stehst – Brief 3

Ich bin froh, dass Du jetzt auf der Seite des Lebens stehst – Brief 3

Bilqis Soleimani an Omar Al-Jaffal,

Übersetzung: Sarah Rauchfuß Aus dem Persischen

Familienfoto - Großvater mit Kindern © Privat
© Privat

Lieber Omar,

leider sind Briefe aus unserem Teil der Welt Trauerkarten. Sie handeln vom Nichtgelebten, Nichtgesagten, Nichtgegangenen, Nichtgegessenen, Nichtgetanen. In diesem Teil der Welt sehnen wir uns nach einem gewöhnlichen Leben. Die jungen Menschen, die derzeit im Iran protestieren, haben dieses Leben zu einer ihrer Forderungen erhoben und es wird auch in der Zeile eines Liedes besungen, das sofort berühmt wurde.

Ich bin froh, dass jenes kleine Mädchen, von dem Du erzählst, Dir eine andere Perspektive ermöglicht hat und Du jetzt auf der Seite des Lebens stehst.

 

Wie ich Schriftstellerin wurde, das ist eine lange, facettenreiche Geschichte – ich habe sie in Form kurzer literarischer Essays aufgeschrieben und unter dem Titel Mein Name ist Bilqis veröffentlicht.

Ich bin in einem Dorf zur Welt gekommen, das 1.400 Kilometer von Teheran entfernt und fast schon im Süden Irans liegt. Mein Vater war Bauer and natürlich Geschichtenerzähler. Die Tage meiner Kindheit fielen in die geschäftige Zeit der staatlich oktroyierten Modernisierung des Landes, aber in unserem Dorf gab es noch keinen Strom und erst recht keine elektronischen Unterhaltungsmedien wie den Fernseher. So saßen wir in den langen Herbst- und Winternächten wie die Nomaden rund um den Ofen herum und unser Vater erzählte uns stundenlang Märchen und Liebesgeschichten. Bei uns im Dorf war mein Vater einer von wenigen, die eine Schule besucht hatten, und er kannte die Werke der großen persischen Sprachkünstler. Dieser kleine Wissenskorpus meines Vaters wurde der Grundriss meines Lebensgebäudes, so dass es nicht übertrieben ist, wenn ich sage: Mein Vater hat mich zu einer Geschichtenschreiberin erzogen. Er war ein sagenhafter Geschichtenerzähler. Lass mich Dir eine Erinnerung erzählen, damit Du siehst, wie groß der Einfluss seiner Worte auf mich war. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und es war einer dieser späten Abende, an denen wir rund um das Feuer saßen und Geschichten hörten. Mein Vater war gerade dabei, uns eine dieser Geschichten zu erzählen, die von Dämonen und Feen handeln, als der Dämon plötzlich seinen Kopf durch die kaputte Fensterscheibe der Tür zum Innenhof steckte. Ein haariger Kopf mit einem langen, graumelierten Bart. Hier endet meine Erinnerung, denn wie uns die Älteren erzählen, fielen wir Kinder – wir alle sechs – vor Schreck in Ohnmacht. Der haarige Kopf gehörte einem Kompagnon meines Vaters, der unbemerkt in das Zimmer getreten war und den wir fälschlicher Weise für den Dämon aus der Geschichte gehalten hatten.

Lieber Omar, das Geschichtenerzählen hat bei uns, genau wie sicher auch bei Euch im Irak, eine lange Tradition, in der unbestreitbar auch Frauen eine Rolle hatten. Bei mir aber war es mein Vater, der mich für Geschichten und Erzählungen begeisterte. Er war ein Meister darin, eine Atmosphäre zu erzeugen und seinen Worten die richtige Tonart zu verleihen, so dass wir in Tränen ausbrachen, als er uns die Tragödie von Rostam und Sohrab aus Ferdausis Schahnameh rezitierte, und großen Anteil an dem Unglück und der unabwendbaren Vorbestimmung von Vater und Sohn nahmen.

Lieber Omar, meinen ersten längeren literarischen Text habe ich mit siebzehn Jahren geschrieben, angelehnt an Kelidar – den großen zehnbändigen Roman von Mahmoud Dowlatabadi. Genau wie Kelidar handelte die Geschichte von einem Rebellen, einem Verwandten, der stets im Morgengrauen mit seinen Kamelen und Männern Halt an unserem Haus machte, bevor er und der Kamelzug ganz plötzlich, einer Sternschnuppe gleich, wieder verschwanden. Dieser „Beginn des eigenen Schreibens“ begleitet mich bis heute. In den etwa zwanzig narrativen Werken, die ich seither geschrieben habe, verschränken sich meine persönlichen Erfahrungen, Beschreibungen meiner Familie, meiner Herkunft und des Dorfes, in dem ich geboren wurde, mit Schöpfungen meiner Fantasie und bilden einigermaßen lesenswerte Geschichten, wie die Mehrfachauflagen meiner Werke bezeugen.

Diese erste Geschichte aus Jugendjahren ist glücklicherweise verschollen. Möglich, dass meine Mutter sie während der Bücherverbrennungen zusammen mit den anderen Büchern verbrannt hat. Sicher hat es solche Bücherverbrennungen auch bei Euch gegeben, im Iran fanden sie in den 1360er Jahren des iranischen Sonnenkalenders[1] statt. Etwa drei Jahre nach dem Sieg der Revolution, während ein Machtkampf zwischen verschiedenen Gruppen wütete, war mit einem Mal alles verboten: Bücher, Zeitungen, Hörspielkassetten, Manifeste. Ein schmales Büchlein oder die Aufzeichnung einer Rede reichten aus, um einen Menschen an den Galgen zu bringen.

Gott allein weiß, wie viele Menschen vor dem Tod bewahrt wurden, weil ihre Mütter ihre Bücher und Zeitschriften verbrannt haben. Mein erster Roman, Das letzte Spiel der Frau, handelt davon.

Lieber Omar, jetzt, wo ich von dem Einfluss erzählt habe, den mein Vater auf mein Schreiben hatte, lass mich noch ein paar Worte über eine andere Tradition verlieren, die ebenfalls zur Herausbildung meines erzählerischen Geistes beigetragen hat. Ohne Zweifel wirst Du Geschichten von den „Dichterwettstreiten“ gehört haben. Ich weiß, dass diese Tradition in der arabischen Welt weit zurückreicht und immer noch in aller Munde ist. Ich weiß auch, dass es zu Zeiten des Propheten Mohammed Dichter gab, die sich auf dem großen Markt von Okaz[2] nahe Mekka versammelten und Die sieben hängenden Oden[3] rezitierten. Bei uns im Iran finden in den Cafés und traditionellen Kaffeehäusern in allen Winkeln der Städte Schahnameh-Lesungen statt und zuletzt auch Lesungen der Werke von Khayyam.[4] Aber die Tradition des Dichterwettstreits drang aus dem öffentlichen Raum auch in die private Sphäre vor. Soweit ich mich erinnere, stießen in jenen langen Herbst- und Winternächten stets junge Dichteranwärter zu den Gelehrten des Dorfes. Der Wettstreit begann und jedermann trieb Geist und Gedächtnis in schnellem Galopp voran.

Im Gegensatz zu den Abenden, an denen Geschichten erzählt wurden, hatten bei dieser Art von Wettstreit zwei große persische Dichter – Hafez und Khayyam – eine herausgehobene Stellung. So hatte ich bereits zahlreiche Gedichte der beiden aufgeschnappt, noch bevor ich eingeschult worden war und das Alphabet gelernt hatte. Thematisch haben diese beiden Ehrwürdigen einen unbestreitbaren Einfluss auf mich und meine Werke gehabt und ich sehe in jenen Dichterwettstreiten die Quellen der nihilistischen, relativistischen und parodistischen Züge, die Literaturkritiker in meinen Werken ausgemacht haben.

Lieber Omar, an der Universität habe ich Philosophie studiert. Tatsächlich habe ich häufiger in den Seminaren der Literaturwissenschaft gesessen, als in den Genuss der Lehre der Philosophieprofessoren zu kommen, und – was noch entscheidender war – ich habe den großen Schatz der Zentralbibliothek der Universität Teheran für mich entdeckt, von wo ich einen Roman nach dem anderen entlieh.

Ironischerweise war es gerade diese stetige Romanlektüre, die mir den Wunsch nahm, selbst zu schreiben. Bei jedem Werk, das ich las, sagte ich mir: „Nein, so wirst du niemals schreiben können, lass deine Finger davon!“ Und ich ließ die Finger davon.

Eine Zeit lang gab ich die Idee auf, selbst zu schreiben, und fertigte keine literarischen Skizzen mehr an. Bis ich anfing, in einem Büro zu arbeiten. Als ich wieder zu Sinnen kam, war ich die Stenografin des Bürodirektors geworden, der zufällig auch Romancier war. Für diesen Mann zu arbeiten, gab mir den Mut zum Schreiben zurück, denn am Ende jeder Sitzung sagte ich mir: „Du schreibst besser als er, warum schreibst du nicht selbst einen Roman, statt den Quatsch dieses Schreiberleins abzufassen?“ Und so machte mich die fixe Idee, selbst zu schreiben, wieder rastlos. Meine ersten literarischen Schriften wurden dennoch erst kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag gedruckt. In der Zeit davor habe ich vier wissenschaftliche Texte veröffentlicht, meine Kinder zur Welt gebracht, viel gekocht – und gelesen und gelesen und gelesen.

Lieber Omar, die Veröffentlichung meines ersten Romans ist eine lange Geschichte für sich, anhand derer sich die politischen und kulturellen Zustände im Iran gut analysieren lassen. Als ich mit vierunddreißig Jahren meine Tochter zur Welt brachte, bin ich anschließend in einem tiefen Morast an Depressionen und Ängsten versunken. Ich wurde sehr krank und sah den Tod schon auf der Türschwelle stehen. Damals habe ich mir gesagt: Du schreibst jetzt deinen Roman! Schreib wenigstens über die Erfahrungen, die dir so albtraumhaft auf den Schultern lasten. Schreib, damit deine Kinder sich erinnern können.

Und ich schrieb. Ich schrieb die Anfangssätze meines ersten Romans, während ich meine Tochter stillte. Als die Arbeit daran abgeschlossen war, musste ich unweigerlich einsehen, dass es aussichtslos war, diesen Roman im Iran zu publizieren. Wenn die Klingen der Zensur das Werk nicht zerfleddern, dachte ich mir, wird meine Familie es verbrennen. Also machte ich mich daran, den Roman noch einmal umzuschreiben. Ich begann damit, meine eigenen Spuren zu verwischen. Das Werk war zu autobiografisch und persönlich geworden. Drei Mal habe ich den Roman insgesamt überarbeitet, ich selbst verschwand unter den Zeilen und gab das Feld für die Charaktere meiner Geschichte frei.

Ich schickte das Werk an einen Verleger und der Verleger schickte es zur Lizenzierung ein. Schade nur, dass die Zensurbehörde nicht so leicht abzuspeisen war – das Buch wurde nicht zugelassen! Zusammen mit meinem Buch stürzte ich erneut in eine Depression. Manchmal aber überlegte ich, wie ich mich und das Buch noch retten könnte, und in einem dieser geistesgegenwärtigen Momente nahm ich plötzlich das Buch und führte es ins postmoderne Zeitalter ein. Das Buch war gerettet! Ein bisschen Spielerei an Form und Technik, etwas Verkomplizierung der Realität und ich und das Buch waren rehabilitiert! Aus der Geschichte wurde die Geschichte einer Geschichte und die literarische Produktion einer Person Namens Bilqis Soleimani wurde zu einer Fantasieproduktion, die im Rahmen einer Schreibwerkstatt entsteht und nicht mehr in die Realität zurückverfolgt werden kann. Die Bücherverbrennungen, Hinrichtungen und Gefängnisbeschreibungen entspringen jetzt den Fantasien einer Studentin, die sich darin übt, Geschichten zu schreiben. Ich ließ den Roman auf vier verschiedene Weisen enden und gestattete dem Leser dadurch, ihn ausgehen zu lassen, wie er Lust hatte. Dieses Mal erhielt das Buch die Lizenz und es wurden schon bald weitere Auflagen davon gedruckt.

Als realistisches Werk, ohne die scharfen Klingen der Zensur, hätte dieses Buch ein Spiegel der Unterdrückung und des Leids sein können, die die Menschen im Iran in den 1360er Jahren zu ertragen hatten. Wir Schriftsteller sind professionelle Seilkünstler in diesem Teil der Welt. Manche meinen gar, die Zensur hätte uns kreativer gemacht. Ich teile diese Ansicht nicht. Die Zensur hat uns Schriftsteller und auch die Verleger zu doppelgesichtigen Zensoren gemacht. Um für ein Werk die Zulassung zu erhalten, spielen wir manchmal ausgeklügelte Spiele und verwandeln das Werk dabei von einer organischen und lebendigen Entität in einen toten und wirkungslosen Text.

Sicher ist technische Raffinesse beim Schreiben wichtig. Aber um den Zensor zu narren, überfrachten wir unsere Werke zuweilen damit, nicht ahnend, dass wir unsere Leser ebenfalls zum Narren halten.

Künstler im Iran verbinden mit den Zensurbehörden viele Erinnerungen. Meistens sind diese Erinnerungen für sie eine Quelle der Erheiterung – über die geistige Einfalt mancher Zensoren kann man wirklich lachen! Die Schriftsteller hier haben sich allerlei Tricks angeeignet, um die Zensoren zu verwirren, und manche geben dieses Wissen an die jüngere Schriftstellergeneration weiter. Dennoch aber verschwinden durch die Zensur jährlich dutzende Werke in Schreibtischschubladen und warten dort auf Zeiten, in denen sie endlich erscheinen können. Mein erster Roman musste etwa drei Jahre ausharren, ehe ich ihn mittels postmoderner Schreibtechniken retten konnte.

Lieber Omar, ich bin mir sicher, dass Du über Deine ersten Schritte als Schriftsteller auch eine hörenswerte Geschichte zu erzählen hast. Bitte schreib mir davon. Ich würde auch gerne mehr über schreibende Frauen im Irak erfahren. Wenn Du darüber etwas weißt, weihe mich bitte ein.

 

In der Hoffnung auf ein Treffen

Bilqis Soleimani

 

[1] Das entspricht den 1980er Jahren des gregorianischen Kalenders; A. d. Ü.

[2] In dem kleinen Ort Okaz nahe Mekka fand damals einmal jährlich eine Art Jahrmarkt mit Dichterwettbewerben und musikalischen Darbietungen statt. Die Tradition geht auf vorislamische Zeiten zurück.

[3] Die sieben hängenden Oden (arab. Al-Muʿallaqat) sind eine berühmte Sammlung arabischer Gedichte aus der vorislamischen Zeit.

[4] Omar Khayyam (1048–1131) war ein Wissenschaftler, Philosoph und klassischer Dichter.

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