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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Bilqis Soleimani & Omar Al-Jaffal > Um zu leben, greifen wir zur Beschönigung der Geschehnisse – Brief 4

Um zu leben, greifen wir zur Beschönigung der Geschehnisse – Brief 4

Omar Al-Jaffal an Bilqis Soleimani, Berlin, 16. Januar 2023

Übersetzung: Kerstin Wilsch Aus dem Arabischen von

Bild eines Olivenbaumastes durch ein Fenster © Losar de la Vera/Flickr – Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
© Losar de la Vera/CC BY-SA 3.0 (verändert)

 

Liebe Bilqis,

ich habe mir Sorgen um Dich gemacht, seit Deinem letzten Brief warst Du vollkommen verschwunden.

An dem Tag, an dem Dein Brief ankam, hatte ich meine Freundin Muna getroffen, von der ich Dir schon erzählt habe. Dieses Mal war sie verzweifelt, ganz anders als in den letzten Monaten.
„Nichts wird sich verändern“, sagte sie. „Das sind Ungeheuer.“
„Sie werden uns nicht leben lassen“, beendete sie ihren Satz und schwieg.

Die Proteste in Iran habe ich von Anfang an verfolgt. Ich habe Videos und Bilder gesehen und iranische Zeitungen mit Google übersetzt, um mir ein umfassendes Bild von den Ereignissen machen zu können. Doch allein Munas Gesichtsausdruck hat mir eine Ahnung davon vermittelt, ob die Protestierenden gegenüber dem Regime an Boden gewannen oder sich angesichts seiner unmäßigen Brutalität zurückziehen mussten! Muna schlief tagelang nicht, um die Nachrichten zu verfolgen. Sie verpasste keine einzige Demonstration in Berlin, selbst wenn sich nur zehn Leute versammelten.

In Deinem Brief gibt es etwas, das Deine Worte mit denen von Muna verbindet, ein Ziel, auf das sich alle geeinigt zu haben scheinen: „Leben“. Du sagst von den Demonstrierenden, dass sie „leben“ wollen, und Muna meinte, dass das Regime die Leute nicht leben lassen wird. „Leben“ wurde überall zu unserer einzigen Sorge, seit 2011 sind die meisten arabischen Länder bemüht, an diesem „Leben“ festzuhalten. 2019 demonstrierten irakische Jugendliche, um es einzufordern, doch ihnen allen wurde nur mit brutaler Gewalt begegnet.

All das führt uns zurück zu der Frage, die wir uns in unserem Leben schon so oft gestellt haben: „Werden wir Erfolg haben?“ Können wir unsere Tage ohne Angst, Bedrohung und Furcht vor einer Zukunft leben, von der wir angesichts der immer noch düsterer werdenden autoritären Regime nicht wissen, wie sie aussehen wird?

Liebe Bilqis, wenn die Geschichtenerzähler, wie Dein Vater einer war, doch nur Bücher geschrieben hätten, durch die – vielleicht – die Bücher, die wir heute lesen, anders wären. Sie sind Zauberer und ihre Aufgabe ist schwerer als die eines Autors. Ein Autor hat genug Spielraum zu überlegen, was er machen wird, die Geschichtenerzähler jedoch möchten die Ergebnisse ihrer Arbeit sehen, sobald sie damit fertig sind. Sie müssen sich die Handlung der Geschichte, den Aufbau der Figuren und die Ausführung gleichzeitig überlegen.

Der Autor ist weniger dazu in der Lage, all diese Dinge auf einmal zu tun.

Doch die Geschichtenerzähler haben ihre Spuren in den Büchern hinterlassen. Es gibt unzählige Schriftsteller, die von den Geschichten ihrer Mütter, Großmütter und auch fremder Frauen und Männer beeinflusst wurden. Ich kenne einen irakischen Autor, der von seinem Vater fasziniert ist. Fast jeder seiner Texte ist vom Leben des „lieben Menschen“ inspiriert worden, wie er ihn nannte. War er einfach nur von einem Vater gefesselt, der wie jeder andere Vater war, oder unterschied sich sein Vater von allen anderen dadurch, dass er erzählen und alle in seinen Bann ziehen konnte?

Die Geschichtenerzähler waren immer schon Zauberer, die die Menschen, die ihnen zuhörten, berührten und sie dazu brachten, zu singen, zu schreiben oder zu tanzen. All diese Künste wollen die allererste Geschichte erzählen, die die Künstler je von den Erzählern gehört hatten.

Geschichten berühren und ich wundere mich nicht, dass Dein Vater der Anlass für Dich war zu schreiben, Geschichten zu ersinnen und ihre Figuren zu gestalten. Ich habe gehofft, eine arabische Übersetzung deines Buchs im Internet zu finden, aber leider fand ich nichts. Ich hätte es sehr gern gelesen.

Ich bin noch nie einem Geschichtenerzähler begegnet, wohl aber Geschichtenerzählerinnen, die eine Geschichte in allen Einzelheiten und mit den wärmsten Gefühlen erzählen, die man überhaupt haben kann.

Meine Großmutter war die erste Geschichtenerzählerin in meinem Leben und nach ihr gab es keine bessere. Sie konnte düstere, gruselige Geschichten erzählen, aber genauso brillant konnte sie eine komische Situation so zum Besten geben, dass alle um sie herum sich vor Lachen den Bauch hielten.

Sie hatte eine große Wirkung auf Kinder. Wenn sie sagte, sie würde uns eine Geschichte erzählen, versammelten wir uns im Halbkreis um sie und wagten kaum zu atmen, um sie nicht zu unterbrechen. Wenn sie mit der Geschichte fertig war, gab sie uns Gelegenheit, über die Handlungsmotive der Figuren zu sprechen, ohne selbst irgendeine Erklärung abzugeben. Sie war wie ein Dozent in Cambridge, der den Studierenden beibringt, was ethische Werte sind und wie man ihnen entsprechende Entscheidungen treffen kann.

Meine Großmutter war Analphabetin, aber sie verbrannte alle Bücher, die einen roten Umschlag hatten. Ihr ganzes Leben lang fürchtete sie sich vor der Macht von Saddam Hussein und versuchte, alle Spuren zu beseitigen, die ihre Verwandten und ihre Kinder ins Gefängnis des Regimes bringen konnten.

Als sie uns 2005 in Syrien besuchte, sammelte sie einige Bücher mit rotem Umschlag ein, um sie zu verbrennen. Das waren vor allem Gedichtbände irakischer Dichter, die ein Verlag herausgegeben hatte, der sich für rote Einbände entschieden hatte. „Kommunische“ – so sprach sie das Wort aus – „Bücher werden die Baathisten ins Haus bringen“, sagte sie.

Erst nachdem ich nach Deutschland gegangen war, gelang es mir, über meine Großmutter und ihren Einfluss auf mich nachzudenken. Vorher bestand mein Bild von ihr eher aus einzelnen Teilen, die ich hier und da aufgelesen hatte, aber es stand nicht so klar vor meinen Augen.

War der Grund dafür meine Isoliertheit? Ist es das Fehlen von Menschen, das einen an die Vergangenheit denken lässt, weil es in der Gegenwart nicht viel gibt, über das man nachdenken könnte? Ein zurückgezogener Mensch lebt in seiner Vergangenheit. Sein Heute ist nichts anderes als ein Sauerstoffgerät, das ihn weiterhin durch die Vergangenheit streifen lässt, durch ihre Details und einzelne Momente, an denen er nun viele neue Seiten entdeckt, als würden sie gerade erst passieren.

Auch ich, liebe Bilqis, war siebzehn Jahre alt, als ich zum Schreiben kam. Es war wie eine große Insel für mich und ich war durstig. Ich wollte alles aufschreiben, ja, ich tat nichts anderes mehr als zu schreiben. Doch dann verglich ich das, was ich geschrieben hatte, mit dem, was ich gelesen hatte, und löschte alles wieder. Und in diesem Strudel blieb ich ein ganzes Jahr.

Ich war kläglich gescheitert.

Zu dieser Zeit befand ich mich in Syrien. Wir hatten ein Zimmer außerhalb der Wohnung, in dem sich mein Bruder und ich mit unseren Freunden treffen konnten. Wir benutzten es eigentlich nicht, doch wenn ich schrieb, war es mein Zufluchtsort.

Vor dem Zimmer stand ein riesiger Olivenbaum, dessen Blätter mit dem Wechsel der Jahreszeiten oder des Sonnenlichts in erstaunlicher Weise ihre Farben änderten. Dem Baum wurde es nie zu viel, neue Nester in sich aufzunehmen, die voller junger Vögel waren. Mit ausgestreckten Hälsen und aufgesperrten Schnäbeln warteten sie auf Futter, um zu wachsen und endlich fortzufliegen, die Welt zu erkunden und dann vielleicht erneut an den Ort ihrer Geburt zurückzukehren.

Zu dieser Zeit war das Internet bei den Leuten zu Hause noch nicht sehr verbreitet und ich konnte mich nicht so gut über Neuigkeiten aus Irak informieren. Aber mein Vater hatte eine umfangreiche Bibliothek und so las ich einfach alles, was mir in die Hände kam. Ich begann mit der Literatur der Generation, deren Texte am meisten verschlüsselt waren und vage blieben: der Generation der achtziger Jahre, von der ich Dir in meinem letzten Brief geschrieben habe.

Der immer volle, lebendige Baum, der mit seinen dicken Wurzeln unsterblich zu sein schien, welkte vor meinen Augen langsam dahin. Zu dieser Zeit wollte ich unbedingt verstehen, was in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts passiert war, als wir hungern und unser Menschsein verleugnen mussten, nur um für unseren letzten Tag gerettet zu werden. Ich las Texte der Dichter aus dieser Zeit.

Die Gedichte der Neunziger-Generation waren sprachlich ärmer als die aus den achtziger Jahren – also der Dichter, die den Krieg erlebt hatten –, aber sie waren sanfter, verfangen in ihrer totalen Niederlage, voll schwarzer Ironie.

Oft waren die Fliegen noch vor mir
bei euch
ihr schönen Tage

(Abdulamir Jarass, bei einem Autounfall in Kanada im Alter von 38 Jahren verunglückt.)

Ich liebe diese beiden Generationen, weil ich in meinem Leben keine anderen Texte gelesen habe, die so von Niederlagen zeugen.

Aber, liebe Bilqis, die meisten Schriftsteller aus dieser Generation waren Männer, die Frauen konnte man an einer Hand abzählen. Irak hat leider nicht viele Schriftstellerinnen. Wenn den Frauen die Freiheit gegeben wurde, sich im Land zu bewegen, wandten sie sich der Politik oder der gesellschaftlichen Arbeit zu, und oft wurden wir gerettet, weil sie die Dinge in die Hand genommen hatten. Während des Krieges regelten die Frauen alles, und in den neunziger Jahren, als der Hunger das Land in seinen Klauen hatte, waren es sie allein, die uns retteten. Sie besannen sich auf ihre Talente und machten einfach. Schneiderinnen, Bäckerinnen, Köchinnen, Teppichweberinnen, Produzentinnen von Milchprodukten. Jede Frau in jedem Haus übte eine beschwerliche Tätigkeit aus, um ihre Familie zu retten.

Ich denke, dass die männliche Präsenz an den Orten der Kultur – ich meine hier Cafés, Bars, Klubs – auch ein Grund dafür war, dass so wenige Schriftstellerinnen die Bühne betraten. Diese Orte strotzen nur so vor Maskulinität.

Stell Dir vor: Selbst im Krieg in den achtziger Jahren schrieben manche Dichter ganze Bücher, während sie an der Front waren, einige von ihnen in vorderster Linie. Aber was soll man von den Frauen sagen? Welche täglichen Kriege haben sie geführt, die sie von einer aktiven Teilnahme an der Bewegung des Schreibens und Veröffentlichens abhielten!?

Aber natürlich, und trotz allem, haben wir hervorragende Schriftstellerinnen. Eine davon mag ich ganz besonders. Sie heißt Inaam Kachachi und ich habe gelesen, dass einige ihrer Bücher ins Persische übersetzt worden sind. Ich hoffe, dass die Übersetzer die zauberhafte Musik ihrer Sprache übertragen und einen Weg gefunden haben, ihre schönen sprachlichen Paradoxe zu übersetzen.

Liebe Bilqis, ich stimme Dir absolut zu in dem, was du über Zensur gesagt hast.

Um zu leben, greifen wir zur Beschönigung der Geschehnisse. Wir gehen zur „Herausforderung“ und sagen zu ihr: „Los geht’s, wir haben eine Aufgabe.“ So wurden viele Bücher unter der Autorität des Zensors und der Selbstzensur geschrieben. Ganz sicher waren manche Versuche, den Zensoren auszuweichen, erfolgreich, andere aber auch nicht. Oder die Texte warten darauf, noch einmal geschrieben oder gründlicher gelesen zu werden.

Auch das „Elend“ zu preisen ist eine ärgerliche Sache. Man verlangt von den Autoren, „gute Arme“ zu sein, um als hervorragende Schriftsteller zu gelten.

Aber das ist nur dummes Geschwätz.

Hunger ist wie ein Virus. Wenn er herrscht, hat er materielle, moralische und seelische Armut zur Folge. Keiner sollte ihn ausprobieren müssen, genauso wie keiner ihn je preisen sollte.

Liebe Bilqis, die Zensoren wurden und werden trotz ihrer Macht immer nur belächelt. Dutzende Geschichten kenne ich über sie und meistens sind sie zum Lachen. Ein Freund von mir sagt immer: „Wenn sich jemand mit dem Beruf eines Zensors zufriedengibt, dann kann er nur ein gescheiterter Autor und ein schlechter Leser sein.“

Ich freue mich, dass Du letzten Endes das Buch drucken konntest und dazu noch mit vier verschiedenen Ausgängen. Ich werde versuchen, es mir zu besorgen.

Bitte schreib mir doch wieder, wenn Du Zeit hast, ich würde mich sehr freuen zu hören, was es Neues bei Dir gibt und woran Du gerade arbeitest.

Herzliche Grüße
Omar

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