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(W)Ortwechseln > Rasha Habbal & Ivana Sajko > Die Tür ihres alten Hauses - Brief 1

Die Tür ihres alten Hauses – Brief 1

Rasha Habbal an Ivana Sajko, 15. Juni 2020

Übersetzung: Filip Kaźmierczak

(W)Ortwechseln, Rasha Habbal,
© privat

Liebe Ivana,

während ich alleine im Garten sitze, schreibe ich diesen Brief an Dich. Ich weiß nicht, wie ich ihn überhaupt anfangen soll. Es ist schwieriger als ich dachte, an eine Unbekannte zu schreiben.

Der Himmel ist mit Wolken überzogen. Lange Zeit zögerte ein Regen über uns, dann fasste er doch noch einen Entschluss. Es war einer dieser flüchtigen Schauer, eine sommerliche Dusche für die vielen kleinen Vögel, unsere Nachbarn – dann machte er sich davon. Jetzt trocknen sich die Vögel ihre Federn mit Handtüchern aus Sonnenstrahlen, zwitschern und picken dabei die Ameisen meiner verworrenen Gedanken auf.

Gedankenlos greife ich zum Handy. Ich brauche Musik, um mich in meine eigene Stille versenken zu können. Warum die Stimme der Vögel nicht auf meinen Worten an Dich landen soll? Keine Ahnung! Immer, wenn ich schreiben, lernen oder einfach weg sein möchte, setze ich Kopfhörer auf und höre laute Musik. Ich ziehe mich aus Zeit und Raum zurück und schleiche mich in meinen Raum. Die Musik und die Texte höre ich nach einer Weile nicht mehr. Sie werden zu Worten und Noten, die um meine Stille herumschweben und sie beschützen. Wie bei dem „Raum der Stille“ am Brandenburger Tor ziehen sie mich aus dem Lärm und der Menschenmenge fort an einen Ort, an dem ich nur noch mich selbst hören kann: Wie ich Speichel schlucke, wie mein Atem vor meinem Gesicht ein Knistern verursacht. Warst Du schon einmal in dem „Raum der Stille“?

Während der letzten zwei Jahre habe ich versucht, das Durcheinander in meiner Seele, das immer größer wird, aufzuräumen; ich habe versucht, alles, was sich auf ihrem Rücken anhäufte, loszuwerden. Die Angst war dabei die treueste Begleiterin. Und die klebrigen Flecken der seltsamen Wege des Lebens und der Schicksale. Auch wenn ich keine klare Idee davon habe, wo ich anfangen und wie genau ich durch mein Gedächtnis wandern soll, gehe ich los. Ein Gedanke treibt mich an: Alle Türen zu öffnen.

Als erstes öffne ich die Tür unseres alten Hauses. Es ist das letzte Haus, in dem wir als Familie glücklich zusammen gewohnt haben. Ich habe meiner Mutter davon erzählt, woraufhin sie mir ein paar Bilder schickte, darunter auch dieses, das ich dem Brief an Dich beilege. Auf dem Bild ist mein Vater zu sehen: Der erste gut aussehende Mann in meinem Leben; der erste, der mit meinen Haaren spielte, mir Gedichte vorlas und mich „grazile Gazelle“ nannte. „Rasha“ bedeutet auf Arabisch „junge Gazelle“ – ein im Wald spielender Name. Er zerrieb für mich die mürben Tage zwischen seinen Handflächen wie getrocknete Minzblätter. Er war der erste Mann, der mit mir tanzte. Der erste, der vor meinen Augen geweint und gelitten, der harsch reagiert, anderen Unrecht getan und Unrecht erlitten hat. Der an den vergilbten Tagen würgte, die zwischen uns grünen Blättern vorbeiflogen.

Auch meine Mutter ist dabei: Mein Herz stockt vor ihrer Schönheit. Die anziehendste Frau, die ich je gesehen habe. In ihren Kleiderschränken und Schubladen, zwischen den Nachthemden und der Unterwäsche erforschte ich erstmals die Frauenwelt, die mich seither fasziniert. Ich probierte ihre Schuhe und Kleider wie ihre Geschichten und Gesichtszüge und spazierte damit herum.Von ihr habe ich gelernt, dass Tanzen und laute Musik keinen Anlass benötigen. Sie tanzte und hörte Musik beim Bügeln, Putzen, Kochen, Autofahren, auf Feiern oder wenn sie weinen wollte.

Mit dem Hochmut einer nie zu befriedigenden Hauptstädterin brachte mir diese Damaszenerin bei, dass das Unmögliche nur ein Trugbild ist. Dass man jederzeit neu anfangen kann. Mich erstaunte immer wieder, wie sie jeden Tag neue Gründe fand zu leben, wie sie Pläne schmiedete und Träume wob, für die man noch zehn zusätzliche Leben bräuchte. Und auch, wenn wir ihre alten Pläne verkörpern, die nicht ganz aufgegangen sind, wurde sie niemals müde, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Ihr ganzes Leben ist ein ewiges Möglichsein.

Natürlich haben beide auch viele Seiten, die ich nicht mag. In diesem Moment gibt es aber für diese Seiten keinen Platz zwischen ihren Gesichtern.

Ich habe die klaren Züge meines Vaters und das auffällige Gesicht meiner Mutter. Ich sehe mich selbst auf diesem Bild wie ein zusammengebasteltes Abbild von ihnen beiden. Ich entstamme ihnen beiden, bin das Ergebnis einer Chemie des Begehrens, der Liebe, des Willens, des Vertrauens, der revolutionären Lieder und des Glaubens an Gerechtigkeit im Leben, der so lange stark bleibt, bis der Sturm der Tatsachen hereinbricht.

Doch jetzt, während ich schreibe, mache ich mir zunehmend Sorgen. Wenn ich so weitermache, komme ich in Teufels Küche. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Kraft für Diskussionen und den endlosen Streit mit meiner Mutter, für ihre Tränen. Ich hatte begonnen, ohne nachzudenken, mit der Musik im Ohr, die um meine Stille herum schwebte, ich hatte nichts außer ihr gehört. Doch jetzt denke ich: Ich habe einen Guinnessrekord verdient für die kürzeste Zeit, in der man sich Ärger einhandeln kann. Keine Ahnung, woher ich den Mut nahm, mit dem ich die Angst vor der Veröffentlichung dieses Bildes verjagte. Meine Eltern haben mir nie direkt verboten, ihre gemeinsamen Bilder zu zeigen. Es ist vielmehr dieses Gefühl, das mich schon seit vierundzwanzig Jahren begleitet: das Gefühl, dass ich sie nicht an einem Ort zusammenbringen kann, nicht einmal auf einem Bild.

Ihre Leben haben sich nach der Scheidung so entwickelt, wie es zu ihnen passt. Beide kehrten zu ihren ursprünglichen Bildern zurück, ohne mich jemals nach meiner Meinung zu fragen. Und obwohl ich mein ganzes Leben lang die Konsequenzen davon tragen musste, möchte ich als Rasha, ihre Tochter, sagen: Ich mag ihre ursprünglichen Bilder. In ihrem gemeinsamen Leben fehlte etwas. Nachdem sie sich getrennt hatten, habe ich mich an den neuen Mangel gewöhnt, und das Bild wurde vollkommen.

Seitdem ich vierzehn bin, seit dem Jahr, in dem sich mein Leben unwiderruflich veränderte und sich von da an zwischen zwei Polen erstreckte, stehen ihre Namen nebeneinander auf meinem Ausweis. Dieser Ausweis ist der letzte Ort, an dem wir uns ohne Streit und Lärm getroffen haben. Jedes Mal, wenn ich beweisen möchte, wer ich bin, muss ich sie beide nebeneinander zeigen.

Warum soll ich mir Sorgen machen, wenn ich ihr gemeinsames Bild zeigen möchte? Ist es nicht mein gutes Recht? Darf ich das von meinem Gedächtnis nicht erwarten?

Liebe Grüße

Rasha

Trier

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