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(W)Ortwechseln > Lina Atfah & Nino Haratischwili > Schreib mir Nino, weil ich jedes Mal, wenn ich deine Worte lese, den Rückweg nach Hause finde – Brief 3

Schreib mir Nino, weil ich jedes Mal, wenn ich deine Worte lese, den Rückweg nach Hause finde – Brief 3

Lina Atfah an Nino Haratischwili, 05. Februar 2019

Übersetzung: Osman Yousufi

(W)ortwecheseln, Lina Atfah, Nino Haratischwili, Häuser, Ruinen
„Stundenlang saß ich im Innenhof unseres Hauses und betrachtete den Balkon, die Steintreppe, den Jasmin, der sich die Mauer und die Regenrinne hinaufwand, …“ Foto: Privat

Von: lina atfah
Betreff: Aw: Guten Abend liebe Nino
Datum: 5. Februar 2019 um 14:21:01 MEZ
An: Nino Haratischwili

Liebe Nino,

ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich das Foto sah. Warum sollte Nino mir ein Foto unseres Hauses in Salamiyya schicken?, fragte ich mich. Das Gefühl hatte ich schon lange: Du und ich, wir teilen nicht nur einfache Details, es ist ein ganzes Leben, das seine Fäden zwischen uns spinnt.

Der Anblick eines Hauses wird von weit mehr bestimmt als von dem Haus oder dem Garten selbst. Stundenlang saß ich im Innenhof unseres Hauses und betrachtete den Balkon, die Steintreppe, den Jasmin, der sich die Mauer und die Regenrinne hinaufwand, und den Orangenbaum, der wie ein neugieriger Nachbar aussah, der seinen Kopf vorstreckt, um einen schnellen prüfenden Blick nach draußen zu werfen. In diesem Innenhof experimentierte ich mit der Poesie und teilte meine Geheimnisse mit dem Ort. Der Ort ist ein Verbündeter der Seele.

Einsam kommt der Mensch zur Welt und verlässt sie genauso einsam, aber ich teilte meine Einsamkeit mit dem Ort. Ich bin Nachfahrin einer langen Migrationskette, und jener Ort ist es ebenso. Dass die Pflastersteine sich sammeln, um ein Haus zu formen, ist genauso eine Migration.

Von unserem Balkon schaute man auf einen Friedhof. Dort spielte ich jahrelang mit meiner Schwester und anderen Kindern zwischen den Gräbern. Die Tatsache, dass unser Haus vom Friedhof umgeben war, versöhnte mich mit dem Tod. Mein erster Verlust trat ein, als der Friedhof in einen Park verwandelt wurde und der Lieblingsort meiner Kindheit verschwand.

Meine Schwester und ich nannten ihn den kahlen Park, weil er mit ein paar Zypressen und einem unfertigen Brunnen aus blauem Porzellan der ärmste Park der Welt war. Aus einem Ort voller Labyrinthe, Geschichten, Kleintiere, Kräuter, komischer Blumen und Geister wurde ein langweiliger Ort, wo man nicht spielen, sondern nur um den Friedhof trauern konnte.

Hier in Deutschland sind die Friedhöfe übersichtlich, perfekt und schön, aber auch kalt, streng und geheimnisvoll. Unser Friedhof war herrlich, chaotisch und laut.

Ich vermisse ihn, ich hatte ihn schon verloren, bevor ich Syrien verließ.

Ich verlor ihn, weil er sich veränderte und ein langes Gedächtnis verschluckte.

Ich vermisse den Ort und seine Gewohnheiten.

Wenn du dir das Bild anschaust, das ich dir schicke, wirst du die Ähnlichkeit bemerken, zwei gegenüberliegende Spiegel und zwei Leben, die Verstecken spielen und lachen, als ob alles in Ordnung wäre.

Früher konnte ich das ganze Haus beobachten, während ich den Innenhof schrubbte. Ich erinnere mich an das Wasser, das ich aus dem Eimer goss, ich erinnere mich an das Geräusch des Schrubbers, ich erinnere mich daran, wie ich das Wasser verteilte und wie das Wasser allen Staub und Schmutz verschluckte, wie es alle meine Sünden in den Gully mit der gelben Abdeckung schwemmte.

Ich vermisse die Routine des Wischens. Hier, wo es keine Gullys wie zu Hause gibt, wische ich den Staub weg und betrachte ihn dann, schwarz und schmutzig, auf dem Scheuerlappen. Ich sehe alle meine Sünden. Ich bräuchte einen großen Wassereimer, um ganz viel Wasser zu vergießen und das lange Gedächtnis des Elends wegzuwischen.

Schreib mir Nino, weil ich jedes Mal, wenn ich deine Worte lese, den Rückweg nach Hause finde.

Anbei schicke ich dir ein Foto aus Salamiyya. Meine Cousine Salam Atfah hat es vom Innenhof aus aufgenommen. Sie wohnt heute mit ihrer Familie in unserem Haus. Früher wohnten sie in einem Dorf in der Nähe von Salamiyya, in Al-Mabujah, wo der IS einmarschierte und ein schreckliches Massaker beging. Nachdem der IS seine Mission beendet hatte, bombardierten die Regierungskräfte die Häuser mit Luftangriffen. Meine Cousine und ihre Familie überlebten die Angriffe, aber sie verloren ihr gesamtes Hab und Gut.

Viele liebe Grüße aus Wanne-Eickel

Lina

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