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Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Oksana Stomina & Ulrike Almut Sandig > Nicht die Wahrheit bringt die Menschheit in Gefahr - Brief 4

Nicht die Wahrheit bringt die Menschheit in Gefahr – Brief 4

Oksana Stomina an Ulrike Almut Sandig, Unterwegs, 15. November 2022

Übersetzung: Claudia Dathe aus dem Ukrainischen

Zerbombtes Haus, Mariupol, Ende April 2022 © Vladislav Pyatin
Zerbombtes Haus, Mariupol, Ende April 2022 © Vladislav Pyatin

Liebe Ulrike!

Es kommt mir so vor, als wäre ich mit Dir in Oxford gewesen, hätte Eure Musik gehört und mich daran gefreut, dass unser gemeinsamer Freund Hryz über kleine Dinge herzlich lachen kann, wie es ja eigentlich im normalen Leben üblich ist. Ich weiß, wie sehr ihn der Krieg belastet, deswegen bin ich so dankbar für die „Lichtungen“ in Oxford, auf denen er wenigstens zeitweise wieder er selbst sein konnte, unbeschwert, witzig und geistreich. Das ist für uns im Moment so unglaublich schwer und deshalb so wertvoll.

Entschuldige, Ulrike, dass ich Dir mit nichts Besserem antworten kann als mit einem Gespräch über den Krieg! Ich kann an nichts anderes denken. Er ist die objektive Wirklichkeit, die meine Welt verändert hat. Und er ist meine persönliche Wirklichkeit, durch deren Prisma ich seit einiger Zeit alles betrachte, was mich umgibt. Ich bin stark, ich glaube fest an den Sieg des Guten über das Böse, des Gesetzes über die Gesetzlosigkeit, der Liebe über den Hass, des gesunden Menschenverstands über wahnwitzige Ambitionen. Ich bin stark, deswegen kämpfe ich mich verbissen aus dem Schlund des Schmerzes und der Schwermut heraus und unterstütze mein Land, so gut ich kann. Ich bin stark, aber wie aus einem Gefäß, das von schweren Erfahrungen und niederdrückenden Gefühlen überquillt, fließt und ergießt sich aus meinem Unterbewusstsein immer wieder ein vom Krieg getränkter Inhalt. Ich träume von meiner eigenen Trauer, ich erwache mit einer zur Faust geballten Hand. In den Traktoren auf den Feldern sehe ich Panzer, und die von der Zeit versehrten römischen Skulpturen in der Münchner Glyptothek assoziiere ich mit den verwundeten Soldaten des russisch-ukrainischen Krieges. Wenn ich die Architekturdenkmäler in München, Barcelona, Prag oder Paris betrachte, sehe ich fragile Mauern, die jeden Moment von einem Raketenvolltreffer zum Einsturz gebracht werden könnten. Wenn ich in die glücklichen und lächelnden Gesichter von Deutschen, Spaniern, Tschechen oder Franzosen schaue, sehe ich verletzliche Geschöpfe, deren Leben in der Hand jener liegt, die Waffen besitzen und töten wollen.

Die Erfahrung des Krieges hat mich nicht verständiger gemacht, hat nichts zutage gefördert, was ich nicht schon vorher wusste. Ich habe mich lediglich einiger Wahrheiten versichert und empfinde es jetzt als meine Pflicht, andere zu warnen, die Menschheit laut und eindringlich zu erinnern: Unsere Welt ist fragil! Was der eine Mensch erschafft, kann der andere zerstören. Alles, schöne Gebäude, eine stabile Wirtschaft, wertvolles Kulturerbe oder starke internationale Beziehungen, alles kann vor deinen Augen zerfallen. Weder verschont die Kugel die Besten noch das Feuer das Wertvollste. In unserer Verletzlichkeit durch das Böse sind wir alle gleich. Die wunderschöne bunte Welt, die so viele Wunder und Möglichkeiten bereithält und in die wir das Glück hatten, hineingeboren zu werden, sie braucht heute mehr Schutz denn je. Unseren Schutz, denn außer uns wird es niemand tun.

In Deinem Brief hast Du gefragt, ob ich mich in Gefahr begebe, wenn ich von meinem Mann oder seinen gefallenen Freunden erzähle. Die Antwort ist: Ja. Aber nicht, weil ich die Wahrheit sage. Nicht die Wahrheit bringt die Menschheit in Gefahr. Die Menschheit wird bedroht von der Lüge, von der Kultivierung des Hasses und einer mittelalterlichen Grausamkeit, die im 21. Jahrhundert wieder auflebt und neue Samen ausstreut. Wir alle haben geschlafen und dieses Unkraut nicht rechtzeitig ausgerissen. Über viele Jahre hinweg hat die Welt zugesehen, wie in Russland eine schreckliche Krankheit ausbrach, sich entwickelte und inzwischen chronisch geworden ist, ihr Name lautet Ruschismus in Anlehnung an und mit einer klanglichen Ähnlichkeit zu einem uns aus der Geschichte wohlvertrauten Phänomen. Der Ruschismus bringt uns alle in Gefahr, in der Ukraine wie im Ausland. Der Krieg ist näher, als es scheint.

Noch Anfang Februar habe auch ich gedacht, dass der Präsident unseres Nachbarlandes über genügend gesunden Menschenverstand verfügt, um diesen Idiotismus zu unterlassen. Aber ich habe mich getäuscht, denn ich habe andere mit meinen Maßstäben gemessen. Putin hatte mit der Invasion in der Ukraine gedroht, und er hat die Invasion realisiert. Woher nehmen wir die Sicherheit, dass er nicht auch seine anderen Drohungen wahrmacht? Die Voraussetzungen dafür hat er allemal: den roten Knopf und hörige Zombies, die beim ersten Befehl des Verrückten diesen Knopf bereitwillig drücken würden. Wer weiß, wo die nächste Rakete der Ruschisten einschlägt? Können wir uns etwa sicher sein, dass sie nicht den Reichstag trifft, nur weil irgendwer die „ruhmreichen Zeiten“ in Erinnerung ruft, als ein Teil von Deutschland von der Sowjetunion kontrolliert wurde? Ist das etwa kein ausreichender Vorwand? Woher kämen sonst die dreisten Markierungen „Richtung Berlin“ auf den Autos und auf den Kinderwagen, die auf Panzer gemacht sind? Genau das verkünden sie während der Paraden des Sieges über den Faschismus auf Russlands zentralem Platz und implementieren zugleich einen neuen Nazismus. Die Frage ist weniger, welche Zukunft in diesen Kinderwagen heranwächst, sondern was die Welt, was Europa und Deutschland dagegen unternehmen wollen.

Ist in einer zivilisierten Gesellschaft, die sich für menschlich hält, die diplomatische Immunität von Verbrechern wirklich human? Sind das nicht merkwürdige Spielregeln? Ist es nicht an der Zeit, die moralisch veralteten, unwirksamen und angesichts der zynischen Dreistigkeit der Mörder ineffizienten Völkerrechtsnormen zu revidieren und zu korrigieren? Der Krieg ist ein Verbrechen, und der ihn entfesselt hat, ist ein Verbrecher, oder irre ich mich da, Ulrike?

Du fragst mich nach meinem Mann, und ich kann Dir einiges berichten, obwohl ich im Moment keine neuen Informationen von ihm oder auch nur über ihn habe. Aber ich kann Dir erzählen, in welchem physischen und psychischen Zustand die Gefangenen, die im Zuge des Gefangenenaustauschs freikommen, zurückkehren. Das, was wir da im 21. Jahrhundert erleben, ist schockierend. Ich kann Dir auch von internationalen NGOs berichten. Die die Sicherheit unserer Asowstal-Verteidiger garantieren wollten, die die Lage beobachten und dreiste und grausame Verletzungen der Rechte von Gefangenen, wie sie zum Beispiel beim Gefangenenmassaker in Oleniwka geschehen sind, verhindern sollten. Und die nichts ausrichten konnten. Davon abgesehen kann ich warten und beten und glauben, dass ich meinen Mann eines Tages lebendig, unversehrt und so, wie ich ihn vor dem Krieg kannte, wiedersehe. Ich glaube daran, dass wir den Sieg gemeinsam feiern werden. Ich werde auf jeden Fall von all den wunderbaren Menschen berichten, die mir auf dem Weg zu diesem Sieg begegnet sind, von allen, die den Ukrainern geholfen haben, den Glauben an Menschlichkeit und Anstand nicht zu verlieren.

Meine Liebe, ich bin Dir und allen Deutschen, die mein Land jetzt unterstützen, unendlich dankbar. Die russische Propaganda droht Euch mit hohen Energiekosten, aber das Gewissen ist wertvoller als Geld, das wisst Ihr ja. Ihr entscheidet Euch dafür, ehrlich und anständig zu bleiben, das macht wahre Menschen aus. Ihr dürft nicht glauben, dass Ihr nichts beeinflussen könnt! Das Wort jedes Einzelnen formt die öffentliche Meinung und die ist im demokratischen Deutschland eine wichtige Kraft. Das ist Euer Beitrag zu einer soliden Zukunft Eurer Enkel. Irgendwann wird man Euch Fragen stellen zu diesem schweren Jahr 2022, und Ihr werdet Rede und Antwort stehen müssen. Und dann wird es nicht um die Heizkosten gehen, das wird niemanden interessieren, sondern um den ehrlichen, grundsätzlichen und konsequenten Kampf für Gerechtigkeit. Was macht es schon, dass ich dieses Jahr die Nebenkostenrechnung nicht zahle …

Also, Ulrike, sing weiter Deine wunderbaren Lieder. Denn Poesie, da stimme ich Dir voll und ganz zu, „ist kein Hindernis, sondern doch unser Instrument, die wirre Welt zu ordnen!“ Wie es sich für Dichterinnen gehört, glauben Du und ich fest daran, dass Liebe die Welt rettet. Und wir sollten nicht aufhören, das allen anderen klar zu machen!

Mit Wärme im Herzen und dem Glauben an das Gute,

Oksana

 

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