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Schreib weiter, Oksana! – Brief 5

Ulrike Almut Sandig an Oksana Stomina, Belin , 22. November 2022

Übersetzung: Soraia Vilela ins Ukrainische

© Ulrike Almut Sandig

Schreib weiter, Oksana,

schreib über diesen Krieg, wie nur Du es kannst. Du bist stark, indem Du zerbrechlich bist. Meine Tochter, weißt Du, sie ist zehn, hat neuerdings Angst vor lauten Warntönen, etwa wenn die Batterie eines Rauchmelders fast leer ist. Bombenalarm, sagt sie dann leise, und ich lüge sie ein bisschen an, dass Deutschland ein sicheres Land sei. Siehst du die Frauen und Kinder, die alle zu uns kommen?, frage ich sie. Sie kommen, weil hier keine Bomben fallen. Was soll ich ihr sonst sagen?
Du hast recht, die Welt ist zerbrechlich. Aber etwas in uns, Oksana, ist es nicht. Schreib auch dann, wenn Du denkst, dass niemand noch ein weiteres Detail erträgt. Schreib gerade dann. Schreib so unmissverständlich es Dir möglich ist, ohne darüber den Verstand zu verlieren.

Das Ausmaß der Unwahrheit und der Verleumdungen, die Russland auch in Zukunft nicht nur den eigenen Kindern, sondern der ganzen Welt erzählen kann, hängt davon ab, wie genau dieser Krieg endet. Er wird ja enden! Russische Eliten erklären ihn bereits für verloren. Du wirst auch Deinen Dima zurückbekommen. Tanzen werden wir! Es wird der Tanz zu einem Klagelied, aber doch ein Tanz.
Wenn wir später unseren Töchtern und Enkeln von diesem verfluchten Krieg mit eingebautem Zufallsgenerator erzählen, dürfen wir nicht müde werden klarzustellen, dass das hier nicht nur ein menschenrechtsverachtender Feldzug gegen die Ukraine ist, sondern auch ein Krieg gegen den Wert von Sprache als Trägerin verifizierbarer Fakten.
Deutschland ist so empfänglich für diese alte, blind machende Liebe zu Russland. Bis vor Kurzem habe ich gedacht, dass das für den Osten, in dem ich aufgewachsen bin, nicht ganz zutrifft. Ich war fünfzehn, als die sowjetischen Truppen abgezogen wurden. Aber weil wir unweit eines militärischen Übungsgebiets lebten, habe ich noch mitbekommen, dass diese jungen Männer Moskau nichts wert zu sein schienen, dass sie geschlagen wurden und unterernährt waren und auch, dass viele von den sogenannten Russen eigentlich aus der Ukraine und anderen Sowjetstaaten kamen. Wie kann man das nicht mehr wissen? Vor Putin, für den schon 2005 die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nicht der Stalinismus oder der Zweite Weltkrieg war, sondern der Zusammenfall der Sowjetunion, müssten gerade wir Ostdeutschen auf der Hut sein. Das sind viele von uns auch, Oksana. Doch für diejenigen, die sich im systemtreuen Umfeld des „Kleinen Bruders“ DDR wohlgefühlt haben, ist Russland noch immer eine emotionale Heimat. Das kotzt mich an. 

Neulich schickte mir meine Cousine einen Artikel der Journalistin Susann Witt-Stahl aus dem Nachrichtenmagazin „Hintergrund“, das sich selbst als konzernkritisch und überparteilich bezeichnet. Darin bezeichnet Witt-Stahl den Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan als ultrarechten NATO-Poeten. Auch der in Berlin lebende ukrainische Musiker Yuriy Gurzhy, der 2016 ein kritisch fragendes Musical über Stepan Bandera auf die Bühne gebracht hatte, wird als Revisionist dargestellt. Und ich muss mein ganzes Vertrauen in unsere demokratische Grundordnung aufbieten, in der Meinungsfreiheit manchmal bedeutet, die Leute so lange Mist erzählen zu lassen, bis die Faktenlage ihnen Unrecht gibt.
Gerade weil in russischen Lagern ukrainische Inhaftierte Spülwasser zu trinken bekommen und zusammengeschlagen werden, bis sie behaupten, Mariupol sei von ukrainischen und nicht von russischen Truppen zerstört worden, bin ich Dir dankbar für Deine Berichte. Bitte schreib, will ich Dir zurufen, um gleichzeitig zu merken, dass ich das eigentlich mir selbst zurufe. Denn es kann nicht sein, dass die, die diesen Krieg erlitten haben, die ganze Last seiner zivilgeschichtlichen Aufarbeitung tragen müssen.

Uns trennt die Erfahrung dieses Krieges, Oksana. Gleichzeitig stecken wir beide mitten drin. Der Krieg begrüßt mich jeden Morgen beim Anschalten meines Handys, wenn ich lese, dass Lviv wieder vom Stromnetz und der Wasserversorgung abgeschnitten ist. Hi from the bomb shelter!, schreibt mir Hryz gerade und richtet Dir liebe Grüße aus. Der Krieg stellt sich neben mich in die Küche und legt mir den Finger auf den Mund, damit ich meine Familie mit Details über Oleniwka verschone, während ich die Schulbrote schmiere. 

Wenn meine Generation eine Rolle in der Geschichte dieses Jahrhunderts spielen darf, dann die der Verbündeten. Oksana, ich wünschte so sehr, Du müsstest all die schönen Städte, Prag, Bologna, Paris, nicht durch das Prisma dieses Krieges sehen.
Weil ich Dir für Deine Briefe etwas zurückgeben will, schicke ich Dir dieses Gedicht. Es ist in diesem Frühjahr entstanden. Für seine Vertonung, Du wirst sie bald hören, haben wir extra eine Volynka aufgenommen, in einem Studio in Lviv, zwischen den Luftangriffen der Orks. Du bekommst es wegen der Liebe und der geschliffenen Anmut von Sprache. Beide werden die wirre Welt ordnen. Wir glauben ja daran, Oksana, Du und ich, trotz aller gegenteiligen Beweise.

Ins lichtblaue nämlich mit zärtlichen Schwalben
im Dunkel vernehm ich die Vogeltonalben
des Frühlings in diesem finsteren Jahr.
Friederike (sie war doch gerade noch da?)
grüßte den wirbelnden Rittersporn: hi!
aber ich bin voll Zorn und verliere den Faden
für mein mützchen v. fury, bin so im diamond.
über uns beiden süsz verbeult schwankt
der Vollmond v. gestern und mitten in seinen Pupillen
schwarz wie dein Haar, sitzen zwei Schwestern:
die Liebe und die geschliffene Anmut v. Sprache
und leuchten uns einen Weg durchs
Wäldchen im Herzen = dunkles Jahrzehnt
v. fury und Furcht. aber hi! trotzdem tanz ich
trotzdem schreibe ich munter: Schwertlilienmonat
2022, Kriegswoche 16, Weltseele kopfunter

Ich umarme Dich fest aus einem überfüllten Regionalzug, der mich nach Siegen bringt. Siegen heißt auf Ukrainisch перемага́ти. Ich nehme das als ein gutes Zeichen.

Wir sehen uns im Gorki!

Deine Ulrike

 

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