Der Strand von Mariupol – Brief 3
Ulrike Almut Sandig an Oksana Stomina, Berlin, 07. November 2022
Liebe Oksana,
ich bin wieder aus Oxford zurück. Mit dem Wild in seinen Parks, die Namen wie Music Meadow oder New College Recreation Ground tragen, kam mir die Universitätsstadt wie ein Paralleluniversum vor. Ein kluger, hoch konzentrierter Miniaturkontinent mit unzähligen Türen, Tempolimits und Talaren unter wolkenlosem Himmel, über den hin und wieder ein Heißluftballon oder ein von fern schreiender Vogelzug flog, und sonst nichts. Vor lauter Frieden wurden wir ganz leicht und lachten viel. Wie sonst ist diese Gegenwart zu ertragen?
Ich lachte über Sascha und Hryz, meine Bühnenpartner unseres Poesiekollektivs Landschaft, die im Gespräch mit dem Publikum offenbar Vokabelschwierigkeiten hatten und beide steif und fest behaupteten, Poesie sei ein obstacle. Aber Poesie ist doch kein Hindernis! Die Liebe und die präzise Anmut von Sprache, rief ich später etwas pathetisch im Backstageroom, sie sind doch unsere Instrumente, die wirre Welt zu ordnen!
Hryz lachte auch über den frühmorgendlichen Probealarm im Queens College, der ihn auf den morgenvernebelten Innenhof hinaustrieb, und wie er dem Sicherheitsbeamten sagte: I am Ukrainian, I have plenty of exercise already. Can I please go back to my bed?
Als ich im Sommer auf Deinem Facebookprofil Deinen Mann in einem Screenshot eines russischen Propagandavideos sah, fuhr mir das Entsetzen in die Magengrube. In einer Reihe mit anderen Gefangenen laufend, den Blick nach unten gerichtet, war Dima kaum wiederzuerkennen und zugleich unverkennbar er selbst. Hast Du inzwischen von ihm gehört? In welchem Lager ist er genau? Musst Du davon ausgehen, dass die Kontaktdaten aus seinem Handy kopiert wurden, also auch Deine? Begibst Du Dich in Gefahr, wenn Du von ihm erzählst? Wie sicher in diesem Cyberkrieg ist Facebook, wo Du mit so großer poetischer Kraft über ihn schreibst? Und woher nimmst Du den Mut?
Unser Konzert fand in einer ehemaligen Feuerwehr statt – Hryz, Sascha und ich sahen in unseren roten Overalls aus wie eine Spezialeinheit, die antritt, um mit Versen ein Feuer zu löschen. In einem unserer neuen Stücke erzählt Hryz von dem fiktiven Staatsunternehmen Ukrainische Tränen Ltd.[1], das die Tränen für den Binnenmarkt zurückhält, so dass es einfach nicht möglich ist zu weinen.
wenn Tränen Feinde töten könnten
wenn Tränen unsere Toten lebendig machen könnten
wenn Tränen Häuser wieder aufbauen könnten
wenn Tränen die Zeit zurückdrehen könnten
hätten wir längst alle Sorgen beweint.[2]
Und während er den Text spricht, Oksana, zeigt Sascha den Loop einer Welle, die auf einen Strand zurollt.
In meinem Feed tauchte heute morgen ein Bild vom Strand von Mariupol auf. Es ist im Spätsommer 2018 auf dem Schriftsteller*innentreffen in Mariupol entstanden, wo Du und ich uns begegnet sind. Hryz und ich unter einem Wellblechdach, er hatte sich meine Sonnenbrille ausgeliehen, weil der Sand blendend weiß war, ich trug noch weißere Handschuhe, der Wind wehte uns vom Meer direkt in die Haare. Weil Du den Ort wahrscheinlich kennst, würdest Du weit hinter uns im Bild die ersten Werftgebäude ausmachen. Wenige Monate zuvor hatte Wladimir Putin die Krimbrücke als Verbindung zur russisch besetzten Halbinsel Krim und dem russischen Festland höchstpersönlich eröffnet. Spätestens da war Mariupol fast vollständig vom Seeverkehr der Schwarzmeerregion abgeschnitten, aber das könntest Du viel besser erzählen als ich. Schließ Deine Augen, Oksana. Siehst Du die grauen Hafenkräne am diesigen Horizont? Das Flirren des Grafitstaubs der Stahlwerke in der Luft? Siehst Du den Strand? Die älteren Damen auf ihren Spaziergängen, ihre flatternden Bademäntel im Wind? Die prustenden Kinder beim Toben in den Wellen? Die Arbeiter im Feierabend, rauchend und in Gespräche vertieft, den Blick an den Horizont geheftet?
Nichts ist mehr, wie es war. Viele, denen wir damals bei unseren Spaziergängen am Strand, durch die Stadt und auch auf den Lesungen begegneten, sind seither geflohen oder leben vielleicht nicht mehr. Aber der Strand, der muss doch noch da sein, oder, Oksana? Irgendwann werden wieder Kinder da toben, und die Alten sitzen nebeneinander auf Frotteehandtüchern, die nackten Füße im warmen Sand, und erinnern sich gegenseitig daran, wie es ihnen gelungen ist, ihre Stadt nach der großen Katastrophe wieder aufzubauen – ein europäisches Seebad, noch schöner als zuvor.
Liebe Oksana, Facebook sagt, Du bist viel unterwegs. Wo auch immer Du diesen Brief liest, umarme ich Dich zurück.
Bis wir uns sehen, will ich mehr Ukrainisch lernen. Wann, wenn nicht jetzt?
Ich trage Socken, auf denen паляниця steht, ein Wort für Brot, das Russ*innen offenbar nicht aussprechen können. Stattdessen sagen sie wohl полуниця, das Wort für Erdbeere. Dass mitten im Krieg Socken mit solchen Witzen produziert werden! Geliebte Ukraine.
Bitte schreib mir, was Du jetzt machst.
Und macht das Lieben den Hass kleiner? Und andersherum?
In Socken, Deine
Ulrike
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