Für ein Wort, ein gutes, ermutigendes, wertvolles Wort haben die Menschen die Luftschutzkeller verlassen – Brief 2
Oksana Stomina an Ulrike Almut Sandig, Unterwegs, 14. Oktober 2022
Übersetzung: Claudia Dathe aus dem Ukrainischen
Liebe Ulrike,
ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut. Er ist so warm und gut, dass man ihn auf eine Wunde legen könnte.
Der Krieg ist sowieso eine Zeit für Briefe. Er verschlägt Menschen an verschiedene Orte, und sie versuchen auf jede nur erdenkliche Weise einander zu erreichen. Menschen senden sich Worte, die womöglich die letzten sind, und das macht sie so unglaublich wertvoll. Menschen senden sich wichtige Worte, oft wirken sie wie ein Zauber. Briefe wie dieser oder eine normale SMS, schriftliche oder mündliche Nachrichten, kürzere oder längere Telefonate sind, glaub mir, wie eine im richtigen Moment ausgestreckte Hand, die den anderen aus einer Depression, aus der Erstarrung reißen und einen Weg aus bleierner Verwirrung und Hilflosigkeit bahnen kann.
Im belagerten Mariupol, wo ich unter grausamem, unausgesetztem Artilleriefeuer und Raketenbeschuss die drei schwersten Wochen meines Lebens verbracht habe, war die abgeschnittene Verbindung zur Außenwelt eine besonders schwere Belastung. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Das kannst Du mir glauben. Die Menschen rangen nach Luft im Informationsvakuum und haben ihr Leben riskiert, um am Telefon eine vertraute Stimme zu hören oder eine kurze SMS von einem geliebten Menschen zu erhalten. Für ein Wort, ein gutes, ermutigendes, wertvolles Wort haben die Menschen die Luftschutzkeller verlassen und sind durch die ganze Stadt bis zu einem Punkt gelaufen, an dem es manchmal Netz gab. Sie haben sich zur Filiale eines Mobilfunkanbieters begeben, vor der ein selbstloser Mensch, ein ehrenamtlicher Helfer oder ein guter Zauberer, Tag für Tag seinen Generator von zu Hause hingestellt und angeschlossen hat.
Die Leute kamen von allen Enden der Stadt geströmt, sie sind über die Trümmer gestiegen, haben sich durch die Frontlinie geschlängelt oder geschlagen und dann lange an der Kreuzung gestanden, wo ständig geschossen wurde, schutzlos und verletzlich. Ich habe gesehen, wie viele von ihnen bei dem Versuch, eine Verbindung herzustellen, das Telefon über den Kopf hielten, und es schien mir, als würden sie sich Gott zuwenden. Von oben hat sie allerdings nicht nur Gott gesehen. Die russländischen Flugzeuge, gesteuert von russländischen Fliegern, haben über ihnen russländische Bomben abgeworfen.
Längst nicht alle, die an diese Kreuzung kamen, konnten den gewünschten Kontakt herstellen, längst nicht alle haben es anschließend in ihren Luftschutzkeller zurück geschafft … Ich bin auch an dieser Kreuzung gewesen. Einmal haben eine Rakete und ich uns wie durch ein Wunder um dreißig Sekunden verfehlt. Wer weiß, vielleicht war das an dem Tag, als Du mir den Brief geschrieben hast.
Er hat mich dort nicht erreicht. Auch auf dem Weg heraus aus der Hölle habe ich ihn nicht bekommen. Ich bin aus den sozialen Netzwerken rausgegangen, um diejenigen, die mit mir im Auto saßen, nicht noch zusätzlich in Angst zu versetzen. Auf meinen Facebook-Accounts gibt es viele ukrainische Symbole, den russischen Posten gelten sie als Ausdruck kämpferischen Aufbegehrens und bieten Anlass, jemanden gefangen zu nehmen. Mein Telefon mit all den Fotos aus dem gelb-blauen Mariupol der Vorkriegszeit und mit glücklichen Menschen in Stickhemden, die die Russen so aufbringen, mit Fotos mit Freunden, von denen viele es „gewagt“ haben, ukrainische Militärangehörige zu sein und also eine ukrainische Uniform zu tragen, dieses ganz gewöhnliche Telefon mit den Artefakten eines normalen Lebens hatte ich in meinem Stiefel versteckt. Und das im 21. Jahrhundert mitten in Europa.
Als ich es aus dem besetzten Gebiet herausgeschafft hatte, fand ich mich auf der anderen Seite der „abschottenden“ Mauer wieder. Mein Mann war noch dort, in Mariupol, genauer gesagt in den unterirdischen Gängen des Stahlwerks Asowstal. Allmählich zog sich der Ring um die Verteidiger der Stadt enger, die brutalen Orks beschossen das Fabrikgelände erbarmungslos mit allen erdenklichen Waffen. Tag für Tag musste ich quasi live mit ansehen, wie diese durch den heldenhaften Widerstand unserer Jungs in Raserei verfallenen Barbaren versuchten, meinen geliebten Mann umzubringen. Alle paar Tage ging mein Mann an eine Stelle auf dem Werksgelände, wo er ein Netz gefunden hatte, um mir zu sagen, dass er noch am Leben ist. Wir sprachen nicht, sondern tauschten nur SMS aus, jeder Ton hätte Dima den Feinden ausliefern können. Liebe Ulrike, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie froh ich über diese Nachrichten war, in den Zeiten zwischen den Kontakten bin ich schier verrückt geworden. Jedes Reden war so, als wäre es das letzte Mal, nie konnte ich wissen, ob mein Mann nach diesem kurzen virtuellen Wiedersehen wieder an seinem Zufluchtsort angekommen oder gefallen war, getötet von einem russländischen Geschoss irgendwo auf dem Weg. Ich habe in diesen Tagen mit dem Telefon in der Hand gelebt. Keine Minute habe ich es auch nur irgendwo abgelegt.
Als diejenigen, die Asowstal überlebt hatten, gefangen genommen wurden, kam die nächste Belastungsprobe. Sie wurden nach der Methode der sogenannten extraction behandelt, das bedeutet ein geordnetes Herausführen einer militärischen Einheit aus einem Kessel. Danach aber war Dima, mein Mann, noch weiter weg von mir. Während ich in Asowstal wenigstens per SMS Kontakt zu ihm aufnehmen konnte, waren die russischen Folterkammern wie ein anderer Planet, auf dem menschliche Gesetze nicht gelten. Laut dem Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen haben die Gefangenen das Recht auf Korrespondenz: mindestens zwei Briefe und vier kurze Mitteilungen pro Monat. Ich habe in vier Monaten keine einzige Nachricht von meinem Mann erhalten.
Und jetzt, liebe Ulrike, weiß ich über Briefe alles. Ich bin Dichterin, ich habe immer an die Kraft des Wortes geglaubt, und im letzten halben Jahr habe ich mich hundertfach davon überzeugt. Und deswegen bin ich Dir auch so unendlich dankbar für Deine beiden Briefe. Für das, was mir in Mariupol gefehlt hat und mich jetzt wärmt.
Lächelnd stelle ich mir vor, wie Du jetzt da in Oxford bist, wo ich selbst noch nie war, ich freue mich über das Konzert, das Du mit dem netten und begabten Hryz Sementschuk gegeben hast, und lächle glücklich in den Bildschirm. Für einen Moment, als wäre ich aus dem Krieg ausgebrochen und hätte mich zu Euch gesellt. Was soll’s, viele ukrainische Grüße nach Oxford. Viel Erfolg Euch und einen vollen Saal!
Schreib mir dann über das Konzert, ja?
Ich umarme Dich.
Im Moment nur virtuell.
Liebe Grüße
Oksana
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